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Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
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um festzustellen, ob ich meinen Rekord übertroffen hatte, und dabei jagte ich den Krabben hinterher, die zum Meer zurückrannten. Eines Tages aber, ich weiß nicht warum, nahm ich den Eimer mit den Krabben mit zum Wohnwagen und stellte ihn neben der Eingangstreppe ab. Und Dad ging in der Nacht nach draußen pinkeln und warf den Eimer um. Ich hörte ihn schimpfen, und Mum rief: »Was ist los, Joe?« Wir sprangen beide aus dem Bett und traten auf die Treppe hinaus. Dad hüpfte umher und versuchte, die Krabben im Dunkeln zu fangen, schob sie mit der Schaufel auf eine zusammengefaltete Zeitung. Wir leuchteten ihm mit der Taschenlampe. Sie waren überall, auch unter dem Wohnwagen, und krabbelten zwischen den Grasbüscheln umher.
    »Wir hätten sie in Ruhe lassen sollen«, meinte Mum. »Den Weg zum Meer hätten sie schon von selbst gefunden.«
    »Aber was ist mit der Straße?«, erinnerte ich sie. »Stell dir vor, jemand wäre da langgefahren, und auf einmal taucht im Scheinwerferkegel ein Krabbenschwarm auf, der über die Straße huscht – und dann das grauenhafte Knirschen, wenn der Wagen sie überrollt!«
    »Eine Krustentierkatastrophe«, kommentierte sie lächelnd und lehnte sich zurück. Es tat gut, glücklich zu sein.
    Als wir in Scarborough angekommen waren, schlossen wir den Reißverschluss unserer Anoraks, zogen uns die Mützen über die Ohren und gingen vom Bahnhof direkt zum Strand. Mächtige graue Wolken jagten vom Meer heran, dazwischen brachen Sonnenstrahlen hervor. Am Ende des Strandes spazierten wir an leeren Geschäften, Spielhallen und geschlossenen Cafés entlang und stiegen über die Brücke zur Burg hoch. Zwischen den Ruinen war es stellenweise windstill. Wir gelangten auf die verdorrte Wiese am Rand der Burginsel und schluckten Luft, als uns der Wind ins Gesicht wehte. Mum zeigte auf einen großen Stein, der ein Stück weiter aus dem Boden ragte, und stapfte darauf zu. An der Landseite lag ein Baumstamm davor. Offenbar hatten schon andere Leute vor uns hier Unterschlupf gesucht, und wir setzten uns in den Windschatten. Jetzt konnten wir einander wieder verstehen.
    »Bei dem Wetter möchte man nicht mit dem Boot draußen sein!«, sagte sie.
    Ich stellte mir vor, wie einen die eiskalte Gischt bespritzte, während die Wellen gegen den Rumpf hämmerten, das Schwanken und Rollen und die Erregung der Gefahr. »Mir würde das gefallen!«
    »So hab ich das früher auch gesehen«, meinte Mum.
    »Wie meinst du das?«
    »Als könnte mir nichts etwas anhaben.«
    »Ich glaube das nicht.«
    »Du glaubst, du würdest ungeschoren aus allem hervorgehen. Du wärst anders als die anderen Mädchen.«
    »Nein, Mum, das glaube ich nicht.«
    »Du denkst nicht daran, dass du das Bewusstsein verlieren und nie mehr an Orte wie diesen zurückkehren wirst.«
    »Wenn wir MTS nicht ernst nehmen …«
    »Jessie, man wird das Problem lösen. Man wird sich etwas einfallen lassen. So ist es doch immer.« Ein verzweigter Ast eines Busches wurde übers flache Gras geweht und überschlug sich immer wieder.
    »Das ist eine Möglichkeit, das Problem zu lösen.«
    »Es wird einen anderen Weg geben.«
    »Du meinst, es soll sich jemand anders für das Programm melden.«
    »Die Welt ist nicht so, Jess. Ein einzelner Mensch kann nicht …«
    »Ein einzelner Mensch kann doch , Mum. Darum geht es. Das ist ja das Großartige daran. Ich kann etwas bewirken.«
    Mum sah mich an, dann richtete sie sich auf und trat wieder in den Wind hinaus. Ich folgte ihr. Sie lehnte sich dem Wind entgegen und stapfte zum Rand der Klippen. »Mum!«, rief ich, aber sie hörte mich nicht. Ich lief ihr nach, doch ein paar Meter vor der Felskante hielt sie an. Sie schaute über den Felseinschnitt zu unserer Rechten hinweg. Der Wind hatte den Brandungsschaum wie Baiser gegen die Klippen geklatscht. Sie drehte sich zu mir um, das Haar umflatterte ihr Gesicht. Sie zeigte zum Rand der Klippen, doch der Wind riss ihre Worte mit sich fort. Sie kam zu mir und neigte sich vor. Ich spürte ihren warmen Atem am Ohr.
    »Warum fliegst du nicht?«
    Ich legte den Kopf in den Nacken und versuchte, ihr Gesicht zu erkennen. Aber sie zog mich wieder an sich.
    »Wenn du ein solcher Superheld bist? Warum fliegst du nicht?« Ihr brach die Stimme.
    Ich schloss sie in die Arme. »Mum, Mum, ist schon gut.« Sie ließ sich einen Moment von mir halten, dann stolperte sie zurück zum Unterschlupf. Sie setzte sich auf den Baumstamm und beugte sich vor, vergrub den Kopf in den Armen. Ich setzte
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