Das Testament des Satans
Vittorinos Notizbuch aus der Tasche. Die meisten Seiten sind herausgerissen, die wenigen Zeilen, die ich noch entziffern kann, geben keinen Hinweis, wo Vittorino das Testament des Satans gefunden hat. Also nochmal von vorn:
Im Geheimarchiv, zu dem nur der Bibliothekar Abelard und sein Adlatus Raymond Zutritt haben, liegt in einer verschlossenen Truhe der Purpurkodex. Diese Chronik enthielt einen Hinweis auf das Buch der Geheimnisse des Satans, den Corentin aber von der Seite gekratzt hat und die er dann mit einem grauenhaften Fluch belegt hat. Das Liber Secretorum Diaboli war unter dem Boden des Archivs eingemauert, bis Vittorino die Granitplatte zerbrach, das Buch las und das Testament des Satans fand. Er wurde ermordet. Yannic erhielt sein Notizbuch, dessen Code er Conan zeigte. Heute Nacht gräbt Conan den Folianten aus, liest ihn und findet das Testament des Satans. Conan wird ermordet. Raymond forscht nach, dringt ins Archiv ein, liest die Chronik und … wird ermordet.
Und ich habe die Teufelsbibel.
Vittorino hat dieses Buch gelesen. Und er hat das Bilderrätsel entschlüsselt, das er in seinen Notizen erwähnt. Langsam blättere ich durch den Satanskodex, vom Titelblatt bis zum Kolophon des sterbenden Verfassers, das so wirr und so unleserlich ist wie Vittorinos letzte Worte, und betrachte die apokalyptischen Bilder. Dabei stoße ich wieder auf die Seite mit der einzigen Erwähnung des Testaments des Satans:
› … und übergab Aubert die vom Blut des Satans triefende Reliquie: das Vermächtnis des Satans, auf dass er sie tief im Felsen verberge und von den Mönchen bewachen lasse …‹
Das war’s.
Also zurück zu den rätselhaften Illuminationen.
Die Öffnung des Buches mit den sieben Siegeln durch das Lamm vor dem göttlichen Thron. Davor ein blutiges Gemetzel: die apokalyptischen Reiter mit Siegeskranz, Schwert und Waage, den Symbolen der ersten drei Siegel, die heute Nacht zerbrochen wurden. Conan. Raymond. Und wer noch?
Ich suche das nächste Bild.
Das Zerbrechen des siebten Siegels. Engel in langen Gewändern blasen die Posaunen. Der Anfang vom Ende: Tod und Verderben.
Weiter!
Saint-Michel mit seinen himmlischen Heerscharen im Kampf mit Satan. Am unteren Bildrand der Mont-Saint-Michel.
Weiter!
Satan stürzt aus dem Himmel in die Hölle.
Weiter!
Das himmlische Jerusalem, dessen Silhouette dem Schattenriss des Mont-Saint-Michel gleicht.
Weiter!
Saint-Michel befiehlt Aubert, auf dem Mont ein Sanktuarium zu errichten.
Das geschieht im nächsten Bild: Im Jahr 999, als dieser Kodex entstand, war die Abtei nur ein kleines Oratorium auf dem Gipfel des Granitfelsens, wo zuvor ein keltisches Heiligtum mit zwei hoch aufragenden Menhiren gewesen war. Saint-Michel schwebt mit ausgebreiteten Engelsflügeln vom Himmel herab. In der ausgestreckten Hand hält er sein Flammenschwert, von dem noch das Blut des Satans tropft. Aubert, der vor dem Erzengel kniet, hebt anbetend beide Hände. Saint-Michel übergibt dem Bischof von Avranches die satanische Reliquie.
Das besagt der Text.
Kein Testament des Satans.
Kein Kodex. Keine Schriftrolle mit dem Vermächtnis des Bösen. Kein Blutkelch. Kein Schrein. Kein Knochen. Nichts.
Nur Saint-Michel mit seinem Flammenschwert.
Ich weiß, es ist da, es muss da sein, direkt vor meinen Augen. Aber ich sehe es nicht.
Ich starre Saint-Michel an, bis mir die Augen tränen. Sein Gesicht. Seine Augen. Seine Lippen. Sagt er etwas? Sein purpurner Mantel. Ein kleiner Fetzen davon wird in dem Reliquiar in der Abteikirche aufbewahrt. Sein funkelnder Harnisch. Seine Hände. Eine Hand ist zu einer gewährenden Geste ausgestreckt, die andere hält das Flammenschwert.
So nah, Sandra! Du musst doch nur hinsehen!
Aubert hebt beide Hände, als ob er die Reliquie entgegennehmen will.
Mein Blick huscht zwischen Aubert und Saint-Michel hin und her, der an seinem Gürtel die prächtig verzierte Scheide seines Schwertes trägt. Dann sehe ich es plötzlich! Nur ein kleiner Federstrich und ein bisschen rote Farbe!
O mein Gott! Kann es sein …?
Die Menhire. Die Grotte. Das Schwert.
Ich hab’s!
Als ich das Buch schließen will, schlage ich unwillentlich das letzte Bild auf: Armageddon. Die letzte Schlacht zwischen Gut und Böse auf dem Mont-Saint-Michel. Darunter der Schriftzug: ›Das Böse ist mächtig. Es wird immer stärker. Doch es ist nicht unbezwinglich. Das Gute wird am Ende siegen.‹
Entschlossen klappe ich den Kodex zu.
Allein kann ich das Testament des Satans nicht
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