Das Testament des Satans
Brüder!«, ruft er mit sich überschlagender Stimme und steigert sich langsam in jene prophetische Erregung hinein, die in seinen Messen die Menge wie eine gewaltige Welle erfasst und mit sich reißt. Dann scheint er zu wachsen, er richtet seinen schmerzverkrümmten Körper auf, hebt beschwörend die Arme und predigt mit donnernder Stimme, als wäre er ein alttestamentlicher Prophet mit Furcht erregenden Visionen, als spräche der Erzengel selbst zu ihm, als hinge sein Leben davon ab, der Welt das Wort Gottes zu verkünden.
Wenn die Montois in einigen Stunden die Messe besuchen, um mit uns den Tag des Erzengels zu feiern, werden sie gebannt seiner Predigt lauschen, atemlos, schweigend, mystisch erregt. Und mit einem leisen Grauen im Blick, wenn sie nach der Messe für Saint-Michel wieder ins Dorf hinabsteigen. Die Mönche sind verrückt, heißt es unten im Dorf. Diesen Ruf haben wir vor allem unserem apokalyptischen Umkehrprediger zu verdanken, der die Gläubigen mit schrecklichen Visionen der Apokalypse und des Jüngsten Gerichts das Fürchten lehrt. Sie glauben ihm, denn sie wissen, dass er den Einsturz des Chors unverletzt überlebt hat und dass ihm die feurige Gestalt des Erzengels erschienen ist, der ihn mit seinem Flammenfinger berührt und damit auserwählt hat. Der Nachhall des Wunders, das ihn gerettet hat und dessen Nachwirkungen noch wie leise Vibrationen spürbar sind – niemand kann sich dem entziehen. Sie glauben ihm, sie verehren ihn wie einen Heiligen, sie küssen seine Hände, sie betteln um seinen Segen, aber sie haben auch grauenvolle Angst vor dem Menschen hinter der schwarzen Ledermaske, bei dem man nie weiß, ob er einen ansieht oder nicht.
Wenn dieser endzeitliche Prophet predigt, ist er von einem Dämon besessen, den er selbst ›den Geist des Erzengels‹ nennt, ›das Licht‹ oder ›die Klarheit‹. Jener Dämon geißelt ihn, treibt ihn an, jagt ihn in die Höhen des Himmels hinauf und inspiriert seine Rede bis zur rücksichtslosen Missachtung aller Folgen.
Wenn er sich während einer Predigt in der Menge verliert, wenn er sein Wesen in sie ergießt, wenn er ihnen seine Gefühle, seine Hoffnungen und Ängste aufzwingt und sie an seinen Visionen teilhaben lässt, wenn er sich selbst in den glänzenden Augen der Gläubigen neu erschaffen kann, dann, und nur dann, lebt er. Denn in dieser Ekstase kann er für einen Augenblick sein eigenes Leiden vergessen, seine Schwäche, sein langsames Sterben, und zu etwas Stärkerem werden, zu etwas Übermächtigem und Unbesiegbarem. Seine Leidenschaft und sein Wille konzentrieren sich auf die Ausübung dieser Macht.
Um die Mönche aufzurütteln, steigert er sich rasch zu dramatischer Höhe und jagt ihnen mit seiner Heftigkeit einen Schrecken ein, der seinem Namen gerecht wird. Der bretonische Name Corentin bedeutet Wirbelsturm.
Die Fratres wiegen sich im Gegenwind seiner Rede, ducken sich im Stakkato der ihnen entgegengeschleuderten Worte, reißen erschrocken die Augen auf, ballen die Fäuste und werden so zu einer lebendigen Antwort auf die Stimme, die mit Donnerhall vom Himmel zu kommen scheint:
»… das Evangelium des Todes!« Nach einigen Worten über die luciferianische Trinität Deus, Satanas und Lucifer ist Corentin jetzt bei seinem Lieblingsthema angekommen. »Armageddon! Der Mont-Saint-Michel ist zum apokalyptischen Schlachtfeld geworden, meine Brüder. Gott gegen Satan, Gut gegen Böse. Unser Bruder Conan ist das erste Opfer dieses Kampfes auf Leben und Tod! Viele sind berufen, meine Brüder, aber nur wenige sind auserwählt, in dieser Schlacht gegen das Böse zu siegen! Satan ist hier, mitten unter uns!«
Corentin wendet sich ab und pocht mit seinem Zeigefinger auf die Brust von Jourdain. »Er ist in dir, Jourdain des Îles.«
Jourdain weicht erschrocken zurück und bekreuzigt sich hastig. Das linke Augenlid beginnt zu flattern. Das hat er immer, wenn er unter immenser psychischer Belastung steht, schon damals, als ich ihn vor acht Jahren in Canterbury Abbey kennenlernte. Er kann nichts dagegen tun.
Jourdain ist ein Normanne, wie man ihn sich vorstellt: hochgewachsen, blondes, fast weißes Haar und blaue Augen wie seine Vorfahren, die ›Nordmanni‹ der alten Chroniken, die norwegischen Wikinger. Wie ich stammt Jourdain von einer Insel. Und wie Robin hat er die funkelnde Rüstung gegen das schwarze Ordensgewand getauscht, den Helm gegen die Tonsur, das Schwert gegen das Brevier. Jourdain ist sehr fromm. Wenn das Sonnenlicht auf
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