Das Testament
älter aus als ihr Mann. Sofern ein Überraschungsgast an ihrem Tisch sie aus dem Konzept brachte, ließ sie sich das nicht anmerken. Nate hatte den Eindruck, dass so etwas ständig geschah. »Nennen Sie mich bitte Nate«, sagte er.
»In Ordnung«, erklärte der Pfarrer und zog sich den Talar aus.
Das Pfarrhaus, das auf eine Nebenstraße ging, stieß gleich an das Kirchengelände. Vorsichtig gingen sie durch den Schnee. »Wie war meine Predigt?«
fragte der Pfarrer seine Frau, während sie zur Veranda emporstiegen.
»Glänzend, mein Schatz«, sagte sie ohne die Spur von Begeisterung. Nate hörte lächelnd zu. Bestimmt hatte sein Gastgeber diese Frage seit Jahren jeden Sonntag an derselben Stelle und zum selben Zeitpunkt gestellt und immer wieder dieselbe Antwort bekommen.
Auch der letzte Zweifel, ob seine Teilnahme an der Mahlzeit schicklich sei, verpuffte, als er das Haus betrat. Der verlockende Geruch nach Lammeintopf hing in der Luft. Der Pfarrer schürte die orangefarben glühenden Kohlen im Kamin, während seine Frau die Mahlzeit auf den Tisch brachte.
Im schmalen Esszimmer zwischen Küche und Wohnzimmer war ein Tisch für vier Personen gedeckt. Nate war froh, die Einladung angenommen zu haben; allerdings hätte er auch gar keine Möglichkeit gehabt, sie abzulehnen.
»Wir sind wirklich froh, dass Sie hier sind«, sagte der Pfarrer, während sie sich setzten. »Ich hatte so ein Gefühl, dass wir heute einen Gast haben würden.«
»Wessen Platz ist das?« fragte Nate und wies mit dem Kopf zu dem leeren Gedeck hinüber.
»Wir decken sonntags immer für vier«, sagte die Frau ohne weitere Erklärung. Sie hielten einander bei den Händen, während der Pfarrer erneut Gott für den Schnee, die Jahreszeiten und das Essen dankte. Er schloss mit den Worten: »Und lass uns immer an die Bedürfnisse und Nöte der anderen denken.« Das weckte in Nate eine Erinnerung. Er hatte diese Worte schon einmal gehört, vor vielen, vielen Jahren.
Während die Schüssel von einem zum anderen ging, unterhielten sich Phil und Laura, wie vermutlich immer, über die Ereignisse des Vormittags. Den Elf-Uhr-Gottesdienst besuchten durchschnittlich vierzig Personen. Tatsächlich hatte der Schnee einige gehindert zu kommen, außerdem ging auf der Halbinsel die Grippe um. Nate beglückwünschte die beiden zur schlichten Schönheit ihrer Kirche. Sie waren seit sechs Jahren in St. Michaels. Schon bald sagte Laura:
»Wenn man bedenkt, dass Januar ist, sind Sie erstaunlich braun. Das stammt doch bestimmt nicht aus Washington?«
»Nein. Ich komme gerade aus Brasilien zurück.« Die beiden hörten auf zu essen und beugten sich aufmerksam vor. Das Abenteuer begann erneut. Nate nahm einen großen Löffel Eintopf, der wirklich köstlich war, und fing an zu erzählen.
» Bitte, essen Sie doch «, forderte ihn Laura von Zeit zu Zeit auf. Nate nahm einen Bissen, kaute langsam und fuhr dann fort. Er sprach von Rachel lediglich als »Tochter eines Mandanten«. Die Unwetter wurden wilder, die Schlangen länger, das Boot kleiner, die Indianer weniger freundlich. Phils Augen tanzten vor Erstaunen, während Nate Kapitel um Kapitel erzählte.
Zum zweiten Mal seit seiner Rückkehr berichtete er seine Geschichte. Von kleinen Übertreibungen hier und da abgesehen, blieb er bei der Wahrheit. Selbst ihn erstaunte die Geschichte. Sie war in der Tat bemerkenswert, und seine Gastgeber kamen in den Genuss einer langen, ausgeschmückten Version, die sie mit Fragen unterbrachen, wo sie nur konnten.
Als Laura die Teller abgeräumt und zum Nachtisch kleine braune Kuchen aufgetragen hatte, waren Nate und Jevy gerade an der Ipica-Ansiedlung angekommen.
»War sie überrascht, Sie zu sehen?« fragte Phil, als Nate beschrieb, wie die Indianer ihm und Jevy die Frau aus dem Dorf entgegenführten.
»Eigentlich nicht«, sagte Nate. »Sie schien zu wissen, dass wir kommen würden.«
Nate gab sich größte Mühe, die Indianer und ihre Steinzeitkultur zu beschreiben, doch Worte waren der Wirklichkeit nicht gewachsen. Er aß zwei braune Kuchen, von denen er während kurzer Pausen in seinem Bericht jeweils große Stücke abbiss.
Anschließend gab es Kaffee. Am sonntäglichen Mittagstisch ging es bei Phil und Laura eher um Unterhaltung als um Nahrungsaufnahme. Nate fragte sich, wer als letzter das Glück gehabt haben mochte, zu Geschichten und Essen eingeladen zu werden.
Die Schrecken des Denguefiebers herunterzuspielen war schwierig, aber Nate bemühte sich mannhaft.
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