Das Testament
gelebt hatten.
Noch vor vierundzwanzig Stunden hatte er mit einer Decke auf den Knien auf der Veranda von Joshs Häuschen in St. Michaels gesessen, Kaffee getrunken und zugesehen, wie die Boote in die Bucht einfuhren, während er darauf wartete, dass Phil anrief und ihm sagte, er wolle jetzt in den Keller gehen. Erst nach einer Stunde im Boot hatte er sich vollständig an seine neue Umgebung gewöhnt.
Der Fluss kam ihm völlig unbekannt vor. Bei ihrem ersten Besuch dort hatten sie nicht gewusst, wo sie sich befanden, waren voll Angst gewesen, durchnässt, hungrig und auf die Angaben eines jungen Fischers angewiesen. Alles war von Wasser bedeckt, sie hatten die üblichen Landmarken nicht sehen können.
Nate suchte den Himmel ab, als rechne er mit der Möglichkeit, dass eine Bombe auf sie fiele. Beim geringsten Anzeichen einer dunklen Wolke würde er Reißaus nehmen.
Dann kam ihm eine Biegung des Flusses bekannt vor. Vielleicht war es nicht mehr weit. Würde Rachel ihn mit einem Lächeln begrüßen, ihn umarmen, sich mit ihm in den Schatten setzen und Englisch reden wollen? Hatte sie ihn möglicherweise vermisst oder auch nur an ihn gedacht? Hatte sie die Briefe bekommen? Es war Mitte März, eigentlich mussten die für sie bestimmten Postsendungen eingetroffen sein. Hatte sie inzwischen ihr neues Boot und all die neuen Medikamente?
Oder würde sie vor ihm davonlaufen? Würde sie sich beim Häuptling verstecken und ihn bitten, sie zu schützen, dafür zu sorgen, dass der Amerikaner verschwand und nie wiederkam? Würde er überhaupt die Möglichkeit haben, sie zu sehen?
Nate war entschlossen, weniger nachgiebig zu sein als beim vorigen Mal. Es war nicht seine Schuld, dass Troy ein so albernes Testament verfasst hatte, und er konnte auch nichts dafür, dass sie die uneheliche Tochter dieses Mannes war.
Auch wenn sie ebenso wenig etwas am Stand der Dinge ändern konnte, war ein bißchen Entgegenkommen nicht zuviel verlangt. Sie brauchte ja nur der Stiftung zuzustimmen oder die Verzichtserklärung zu unterschreiben. Er würde nicht ohne ihre Unterschrift abreisen.
Sie konnte der Welt den Rücken kehren, doch immer würde sie Troy Phelans Tochter sein. Er forderte ein gewisses Maß an Mitwirkung. Nate sagte seine Argumente laut vor sich hin. Jevy konnte ihn nicht hören.
Er würde sie über ihre Halbgeschwister ins Bild setzen und in den grellsten Farben ausmalen, was geschehen würde, falls ihnen das gesamte väterliche Vermögen in die Hände fiele. Er würde aufzählen, welche wohltätigen Einrichtungen sie unterstützen konnte, einfach indem sie den Stiftungsvertrag unterschrieb. Er probte seinen Auftritt immer wieder.
Die Bäume an beiden Ufern wurden dichter und bildeten ein undurchdringliches Blätterdach über dem Wasser. Nate erkannte den natürlichen Tunnel wieder. »Sehen Sie, da«, sagte Jevy und wies nach rechts vorn. Dort lag die Stelle, wo sie bei ihrem ersten Besuch die im Fluss badenden Kinder gesehen hatten. Er verlangsamte die Fahrt. Sie schoben sich am ersten Dorf vorüber, ohne einen einzigen Indianer zu Gesicht zu bekommen. Als die Hütten hinter ihnen lagen, gabelte sich der Fluss, und die Wasserläufe wurden schmaler.
Hier befanden sie sich in vertrautem Gebiet. Sie folgten dem Fluss, der sich fast im Kreise dahinschlängelte, tiefer in die Wälder, wobei Lichtungen gelegentlich den Blick auf das ferne Gebirge freigaben. An der zweiten Siedlung legten sie in der Nähe des großen Baumes an, unter dem sie im Januar die erste Nacht verbracht hatten. Sie traten dort ans Ufer, wo Rachel gestanden und ihnen nachgewinkt hatte. Die Bank stand noch da, die Zuckerrohr-Stangen waren fest miteinander verbunden.
Nate hielt den Blick unverwandt auf das Dorf gerichtet, während Jevy das Boot festmachte. Ein junger Indianer kam ihnen über den Pfad entgegengelaufen. Man hatte im Dorf den Motor gehört.
Er sprach kein Portugiesisch, gab ihnen aber durch Grunzlaute und Handzeichen zu verstehen, dass sie dort am Fluss bleiben sollten, bis weitere Anweisungen kamen. Wenn er sie erkannt hatte, zeigte er das nicht. Er schien Angst zu haben.
Es war fast elf Uhr. Sie setzten sich auf die Bank und warteten. Es gab so vieles zu erzählen. Jevy hatte chalanas mit Waren über die Flüsse im ganzen Pantanal geführt und gelegentlich auch ein Boot mit Touristen, wofür es mehr Geld gab.
Sie sprachen über Nates letzten Besuch, wie sie mit dem von Fernande geliehenen Motor über den Paraguay gebraust waren, die
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