Das Testament
hatte einen von Libbigails Scheidungsfällen abgewickelt und geduldig ein Jahr lang auf sein Honorar gewartet. Immerhin war sie eine Phelan. Durch sie würde er endlich an die fetten Honorare herankommen, die bisher außerhalb seiner Reichweite gelegen hatten.
In ihrer Gegenwart rief er Hark Gettys an und brach einen wilden Streit vom Zaun, der eine Viertelstunde tobte. Mit den Armen fuchtelnd stampfte er um seinen Schreibtisch herum und schimpfte aufgebracht ins Telefon. Schließlich schrie er: »Für meine Mandantin gehe ich über Leichen!« Libbigail war tief beeindruckt.
Als er fertig war, begleitete er sie freundlich zur Tür und küsste sie sanft auf die Wange. Er tätschelte und streichelte sie und umwarb sie mit all der Aufmerksamkeit, die sie sich ihr Leben lang ersehnt hatte. Sie sah nicht schlecht aus. Zwar war sie eher mollig und von den Spuren eines schweren Lebens gezeichnet, aber Wally hatte weit Schlimmere gesehen und auch mit weit Schlimmeren geschlafen. Im richtigen Augenblick würde er möglicherweise aktiv werden.
ACHT
Auf dem kleinen Hügel lagen fünfzehn Zentimeter Neuschnee, als die Chopin-Klänge Nate O’Riley weckten, die in sein Zimmer geleitet wurden. Letzte Woche war es Mozart gewesen. An die Woche davor konnte er sich nicht mehr erinnern. Vivaldi hatte es irgendwann in der jüngeren Vergangenheit gegeben, doch vieles davon lag hinter einem Schleier.
Wie jeden Morgen seit fast vier Monaten trat er ans Fenster und warf einen Blick auf das Shenandoah-Tal neunhundert Meter unter ihm. Auch dort war alles weiß, und ihm fiel ein, dass bald Weihnachten war.
Er würde rechtzeitig zum Fest herauskommen. Das hatten sie - seine Ärzte und Josh Stafford - ihm versprochen. Beim Gedanken an Weihnachten wurde er melancholisch. In nicht allzu ferner Vergangenheit hatte es einige recht angenehme Weihnachtsfeiern gegeben, als die Kinder noch klein waren und sein Leben in geordneten Bahnen verlief. Jetzt waren die Kinder fort, teils erwachsen, teils mit ihren Müttern fortgegangen, und das letzte, was Nate wollte, war ein weiteres Weihnachten in einer Kneipe, bei dem er mit anderen Betrunkenen, denen es genauso dreckig ging, Weihnachtslieder sang und sich den Anschein von Fröhlichkeit gab.
Fern im weißen und stillen Tal bewegten sich einige Autos wie Ameisen.
Man erwartete von ihm, dass er zehn Minuten lang meditierte, entweder im Gebet oder mit Yoga-Übungen, die man ihm in Walnut Hill beizubringen versucht hatte.
Statt dessen machte er Übungen zur Stärkung seiner Bauchmuskulatur und ging dann schwimmen.
Das Frühstück, das er zusammen mit Sergio einnahm, der zugleich als sein Berater, Therapeut und Guru fungierte, bestand aus schwarzem Kaffee und einem Muffin. Während der letzten vier Monate war Sergio, der alles über Nate O’Rileys elendes Leben wusste, sein bester Freund gewesen.
»Du bekommst Besuch«, sagte Sergio.
»Wer ist es?«
»Mr. Stafford.«
»Wunderbar.«
Jeder Kontakt zur Außenwelt war willkommen, in erster Linie, weil es so selten vorkam. Josh hatte ihn einmal pro Monat besucht. Zwei weitere gute Freunde aus der Kanzlei hatten einmal die dreistündige Autofahrt von Washington auf sich genommen, doch sie hatten viel zu tun, was Nate verstand.
Fernsehen war in Walnut Hill verboten - wegen der Bierreklame und weil das Trinken in so vielen Programmen verherrlicht wurde. Aus demselben Grunde enthielt man ihnen die meisten Zeitschriften vor. Nate war das gleichgültig.
Nach vier Monaten ließen ihn die Dinge kalt, die sich im Capitol, in der Wall Street oder im Nahen Osten ereigneten.
»Wann?«
»Am späten Vormittag.«
»Nach meinem Konditionstraining?«
»Natürlich.«
Nichts störte das Training, eine zweistündige Orgie aus Schweiß, Knurren und Brüllen unter der Aufsicht einer in körperlicher Hochform befindlichen sadistischen Trainerin, die ihm persönlich zugeteilt war. Insgeheim bewunderte er sie.
Er ruhte sich gerade in seiner Suite aus, wobei er eine Blutapfelsine aß und wieder ins Tal hinabsah, als Josh eintraf.
»Du siehst großartig aus«, sagte Josh. »Wie viel hast du abgenommen?«
»Sechs Kilo«, erwiderte Nate und tätschelte seinen flachen Bauch.
»Richtig schlank. Vielleicht sollte ich mich auch eine Weile hier einmieten.«
»Kann ich nur empfehlen. Die Mahlzeiten werden ohne eine Spur von Fett und Geschmack von einem Koch mit einem starken Dialekt zubereitet. Die Portionen sind halb so groß wie eine Untertasse, du beißt zweimal rein
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