Das Teufelslabyrinth
hereinschien. Er betrat den Raum und zog die Tür zum Treppenaufgang hinter sich zu.
Im angrenzenden Zimmer hörte er die Stimme einer Frau und das leise Quietschen von Gummisohlen.
Ryan blieb stehen und versuchte so lautlos wie möglich zu atmen, während ihm das Hämmern seines Herzens in den Ohren dröhnte.
Nebenan wurde das Licht ausgeschaltet, und es leuchtete nur noch ein bläuliches Nachtlämpchen. Kurz darauf hörte er etwas weiter entfernt eine Tür auf- und zugehen.
Er rührte sich noch immer nicht, und erst als er eine ganze Minute lang kein weiteres Geräusch gehört hatte, schlüpfte Ryan in den Krankensaal und entdeckte sogleich Melody, die in einem Krankenhausnachthemd in einem der zwölf weiß bezogenen Stahlbetten lag. Und
obwohl die Nonne, die die Nachtwache auf der Krankenstation versah, nirgends zu sehen war, wusste Ryan, dass sie jeden Moment zurückkommen konnte.
»Melody«, flüsterte er und rüttelte sie sanft an der Schulter. »Melody, wach auf.«
Melody schlug die Augen auf, sah ihn an, aber so, als wüsste sie nicht, wer er war, dann verzog sie ein wenig das Gesicht und machte die Augen wieder zu. Man hätte meinen können, sie habe ihn zwar gesehen, war aber nicht interessiert genug, um länger wach zu bleiben.
Sicher, dass er nicht mehr lange allein war mit Melody, schüttelte Ryan das Mädchen noch einmal. »Melody, sag mir, was sie mit dir gemacht haben!«
Wieder öffneten sich flatternd ihre Lider, und diesmal schaute sie Ryan richtig an.
Ihre Augen hatten sich verändert. Sie sahen dunkler aus als in Ryans Erinnerung und hatten einen hitzigen, zornigen Ausdruck angenommen. Ihre Pupillen waren geweitet, das Weiße blutunterlaufen. »Geh weg!«
»Nein. Ich will dir helfen.«
»Verschwinde«, fauchte sie mit rauer Stimme und drehte den Kopf zur Seite. »Ich brauche keine Hilfe.«
In der Ferne hörte Ryan eine Tür.
Die Schwester war zurück.
Zaghaft strich er Melody über die Wange, beugte sich dann über sie und hauchte ihr einen Kuss auf die blasse Haut. Anschließend schlüpfte er zurück in den Abstellraum und durch die andere Tür hinaus ins Treppenhaus, wobei er beinahe vergessen hätte, den Schlüssel wieder von innen ins Schloss zu stecken.
Erst eine Etage tiefer im Erdgeschoss fiel ihm ein, wie kalt sich Melodys Wange angefühlt hatte.
So kalt wie die Steinfliesen unter seinen Füßen.
»Heilige Maria Mutter Gottes!«, entfuhr es Pater Laughlin beim Anblick von Jeffrey Holmes’ blutüberströmtem Leichnam.
»Das habe ich befürchtet«, seufzte Pater Sebastian und legte dem alten Mann eine Hand auf die Schulter. »Es ist nicht das erste Mal, dass ich so etwas sehe.«
»Das ist alles meine Schuld.« Pater Laughlin bekreuzigte sich, griff nach dem Kruzifix, das an seinem Gürtel hing, führte es an die Lippen und küsste es. »Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt«, murmelte er. »Pater Sebastian, wollen Sie mir die Beichte abnehmen?«
»Zu gegebener Zeit«, antwortete Pater Sebastian und leuchtete mit seiner Taschenlampe durch die Zelle. »Nehmen Sie seine Beine. Wir müssen ihn wegtragen.«
Pater Laughlins Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Ihn wegtragen?«, wiederholte er. »Wohin denn?«
»Irgendwohin, wo man ihn nicht findet. Wenigstens nicht bis zum Papstbesuch.« Er fixierte den alten Priester mit einem eindringlichen Blick. »Sofern er überhaupt kommt«, setzte er bedeutungsvoll hinzu. »Was ich zu bezweifeln wage, wenn das hier bekanntwird.« Nachdem der betagte Priester immer noch wie erstarrt dastand, sprach Pater Sebastian ihn mit seinem Taufnamen an. »Ernest, was passiert ist, ist passiert, daran können wir jetzt nichts mehr ändern. Aber wir dürfen im Augenblick nicht nur an den bedauernswerten Jeffrey denken, sondern auch und vor allem an all die anderen Kinder, die unter unserem Schutz stehen. Ganz gleich, was wir empfinden, wir dürfen die Zukunft unserer Schule und unserer Schüler keinesfalls aufs Spiel setzen. Denn wenn diese unselige Geschichte ans Licht kommt, wird nicht nur Seine Heiligkeit seinen Besuch absagen, sondern - was noch viel schlimmer wäre - dann wird man die St. Isaac’s
Academy mit Sicherheit schließen. Deshalb müssen wir jetzt das tun, was für unser Gemeinwohl das Beste ist, und auf Gott vertrauen, dass er uns vergibt, was immer wir an Sünden auf uns laden.«
Pater Laughlin nickte stumm, noch immer nicht imstande, den Blick von dem entsetzlich zugerichteten Gesicht des Jungen abzuwenden, doch
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