Das Teufelslabyrinth
Er stand vor dem Sarkophag, in dem der Leichnam von Jeffrey Holmes lag. Und dieses seltsame grüne Licht leuchtete direkt durch den kalten Stein, und im Inneren konnte Ryan Jeffrey sehen, der ihn genauso eisig anlächelte wie Melody vorhin im Studiersaal.
Ryan wollte sich abwenden. Versuchte seine Füße zum Stehenbleiben zu zwingen, widerstand dem Drang, in diese winzige Kammer zu treten, die die eisige Kälte des Todes verströmte.
Doch das »andere« in ihm trieb ihn vorwärts, hinein in die Kammer, bis Melody und er neben dem leuchtenden Sarkophag standen.
Wie aus eigenem Willen streckten sich seine Hände aus, berührten den kalten Stein, und als Melodys Hände sich auf seine legten, glitt die Marmorplatte zur Seite.
Ryan starrte hinab auf die aufgedunsenen, verwesenden Überreste des Jungen, dem er nie begegnet war, und erneut drohte ihn die Übelkeit zu übermannen. Unter Aufbietung aller Kräfte versuchte er sich abzuwenden, wenigstens einen Schritt weg von dem Steinsarg zu machen, musste jedoch hilflos mit ansehen, wie er und Melody sich wieder an den Händen nahmen, sich gemeinsam nach unten beugten und Jeffrey Holmes’ nackte Brust berührten.
Als ihre Handflächen auf dem knochigen Oberkörper des Jungen zum Liegen kamen, spürte Ryan, wie wieder ein Schwall Energie in ihn hineinströmte und er den Verstand zu verlieren glaubte. Eiskristalle flossen
mit erschreckender Wucht durch seine Venen, brachten erst seine Finger beinahe zum Erfrieren, dann die Handgelenke und flossen immer weiter seine Arme hinauf in seine Brust.
Dann erreichte diese eisige Energie sein Herz.
Nein, er verlor nicht den Verstand - er starb.
Er wusste, dass er am Sterben war - spürte es so deutlich wie den entsetzlichen Schmerz, der seinen Körper schier zerriss.
Dann war es vorüber.
Aber er war nicht tot.
Stattdessen leuchtete er.
Dasselbe grünliche Licht, das noch vor wenigen Minuten Jeffrey Holmes ausgestrahlt hatte, schien jetzt von seinem eigenen Körper abzustrahlen, und als er Melody anschaute, war auch sie umgeben von dieser blassgrünen Aura.
Was immer in Jeffrey Holmes’ Leichnam gewesen war, war jetzt auf sie übergegangen.
Ryan nahm Melodys Hand. Sie ließen die leere Hülle von Jeffrey Holmes in dem offenen Steinsarg zurück und machten sich wieder auf den Rückweg durch die finsteren Gänge, geleitet allein von dem kalten Licht, das nun in ihnen fortlebte.
54
Ryan saß im Studiersaal. Die Übelkeit vom Morgen war wie weggeblasen; seit er und Melody aus den unterirdischen Gängen zurückgekehrt waren, fühlte er sich sehr viel wohler. Er war auch irgendwie viel klarer im Kopf, und alle seine Sinne schienen auf einmal geschärft. Und tatsächlich, während er versonnen den Nacken des Jungen anstarrte, der direkt vor ihm saß - Peter Wise, ein komischer Kauz und irgendwie ein Außenseiter -, konnte Ryan durch seine Haut hindurchschauen und die darunter liegenden Muskeln, Arterien und Venen erkennen. Und dann stellte er sich eine Klinge vor …
Eine Rasierklinge?
Nein. Die Klinge eines Messers.
Eine lange, dünne, spitz zulaufende Klinge, die absolut mühelos durch Peter Wise’ Haut glitt. Vielleicht bildeten sich ein paar kleine Blutstropfen, aber mehr nicht.
Nicht, bis das Messer sich tiefer in seinen Nacken bohrte, die festen Muskelstränge durchtrennte, die Peters Kopf stützten, und dann in die Carotis schnitt.
Dann würde Blut spritzen, würde wie eine Fontäne aus der Wunde sprudeln, indes Peters Kopf nach vorne sackte. Und während das Leben aus dem Jungen herausblutete, würde Ryan das Messer noch tiefer in seinen Nacken stoßen, den Punkt zwischen zwei Wirbeln anvisieren und ihm das Rückenmark durchtrennen. Peter würde in sich zusammensacken, wäre aber noch am Leben, vielleicht sogar noch bei Bewusstsein. Dann …
»Ryan?«
Ryan wurde puterrot und riss seinen starren Blick von Peter Wise’ Nacken. Heilige Maria Mutter Gottes! Was hatte er da spintisiert? Was war nur los mit ihm?
Die Bibliothekarin funkelte ihn so erbost an, als wüsste sie, woran er eben gedacht hatte. Aber dann sah er die Sekretärin des Schuldirektors in der Tür stehen.
»Du sollst zu Pater Laughlin ins Büro kommen, Ryan. Sofort.«
Die Blicke aller Schüler waren auf ihn gerichtet, als er eilig seine Bücher und Hefte einsammelte und in seinen Rucksack packte. Was konnte Pater Laughlin von ihm wollen? Wusste er, wo er und Melody vor wenigen Stunden gewesen waren? Was war in diesem kleinen Raum tief unten in
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