Das Teufelslabyrinth
Nebelwand vor ihr aufgelöst hätte.
Melody! Genau, das Mädchen hieß Melody. Sie waren Zimmergenossinnen, und Melody hatte sie heute Morgen in der Krankenstation besucht.
War das erst heute Morgen gewesen? Merkwürdig, dachte sie. Es kam ihr so vor, als läge dieser Besuch schon viel länger zurück!
Sofia nahm sich ein Tablett vom Stapel, dazu Besteck und Serviette und suchte sich dann etwas zu essen aus, obgleich sie keinen großen Hunger hatte.
Nein, eigentlich hatte sie überhaupt keinen Hunger. Dennoch nahm sie sich ein paar Löffel Gemüse und ein Schälchen mit welkem Salat, über den sie ein wenig Dressing träufelte.
Was machte sie hier eigentlich? Warum ging sie nicht einfach auf ihr Zimmer und legte sich schlafen?
Tu, was von dir erwartet wird!
Die Stimme war so klar und deutlich zu hören, dass Sofia vor Schreck beinahe ihr Tablett hätte fallen lassen.
Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, schaute sie um sich, aber da war niemand in ihrer Nähe, kein Mensch, der diese Worte hätte sagen können.
Verwundert griff sie nach einem Glas mit Eistee, sah ihre Hand zittern, hielt sie ganz bewusst ruhig und stellte das Glas auf ihr Tablett.
Da hallten ihr diese seltsamen Worte erneut in den Ohren: Tu, was von dir erwartet wird. Aber was erwartete man von ihr?
Dass sie zu Mittag aß.
Sie schaute sich um, entdeckte in der hintersten Ecke einen freien Tisch und ging darauf zu, ohne sich darum zu kümmern, dass Melody ihr freudig zuwinkte.
Sie trank ihren Eistee mit einem einzigen Schluck aus und wünschte, sie hätte gleich zwei Gläser genommen.
Auf Essen hatte sie jedoch nicht den geringsten Appetit.
»He!«
Erschrocken zuckte Sofia zusammen, und als sie sich umdrehte, sah sie einen Jungen hinter sich stehen. Ein Junge, dessen Gesicht ihr bekannt vorkam - ein Junge, von dem sie wusste, dass sie ihn kannte! Aber wie hieß er nochmal?
»Ist es okay, wenn ich mich zu dir setze?«
Darren! Sein Name war Darren Bender, und er war …
Ohne ihre Antwort abzuwarten, stellte Darren sein Tablett auf dem Tisch ab und ließ sich ihr gegenüber auf den Stuhl fallen. »Warum sitzt du nicht bei uns? Melody hat dir extra einen Platz freigehalten.«
Sofia blickte verunsichert über den Tisch. »Hätte ich das sollen?«
Darren schaute sie verwundert an. »Wir sitzen doch immer zusammen!«
Sofia senkte den Blick auf ihren Salat und begann darin herumzustochern. Wenn sie immer bei Melody saß, warum dann heute nicht? Weil sie sich nicht daran erinnert hatte.
»Geht es dir gut?«, erkundigte sich Darren ein wenig besorgt.
Nein, es ging ihr gar nicht gut. Überhaupt nicht. Ihr Kopf fühlte sich an wie mit Watte ausgestopft, und alles um sie herum schien ganz weit weg zu sein.
»Sofia?«
Sie sah zu Darren hoch und überlegte, wie sie ihm erklären konnte, was mit ihr los war, aber sie brachte kein Wort über die Lippen. Stattdessen stiegen ihr Tränen in die Augen.
Darren beugte sich über den Tisch hinweg zu ihr hin und senkte die Stimme. »Was hat Pater Sebastian mit dir gemacht?«, fragte er sie leise. »Mir hat er nur vier Ave-Marias und vier Vaterunser aufgebrummt, mehr nicht. Das Ganze war in fünf Minuten erledigt.«
Sofia starrte ihn verständnislos an. Wovon redete er nur? Und dann, ganz langsam, kehrte die Erinnerung zurück. Darren war nicht irgendein Schüler, den sie kannte - er war ihr Freund.
Und während sie ihn immer noch anschaute, verspürte sie plötzlich den Drang, ihm etwas anzutun.
Ihn zu verletzen.
Darren erwiderte ihren Blick und kniff alarmiert die Augen zusammen, als könnte er ihre Gedanken lesen. »He, Sofia, was geht hier ab? Was hat Pater Sebastian gestern Abend mit dir gemacht?«
Pater Sebastian. Ein Gesicht schob sich vor ihr inneres Auge - das freundliche Gesicht eines Mannes mit einer besänftigenden Stimme.
Pater Sebastian?
»Gar nichts.«
»Komm schon, es muss ja was passiert sein, sonst hätte man dich nicht in die Krankenstation gesteckt.«
»Ich weiß nicht.« Mühsam kämpfte Sofia gegen ihre Tränen an. »Ich kann mich nicht erinnern.«
»Soll ich dich wieder auf die Krankenstation zurückbringen? Ich meine, wenn du noch nicht ganz gesund …«
»Nein!«, wehrte sie hastig ab. »Ich brauche nur …« Sie brach ab und schaute sich verzweifelt im Speisesaal um, so als suchte sie etwas - irgendetwas -, das ihr helfen könnte, aber da war nichts.
Dann sah sie das Kruzifix über der Tür, und ein stechender Schmerz fuhr ihr in den Unterleib. Automatisch
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