Das Teufelslabyrinth
während sie das Labor verließ und zurück auf ihr Zimmer ging. »Starr mich nicht so an.«
Das winzige Tierchen in ihrer Hand zitterte vor Angst, so als wüsste es genau, was ihm bevorstand, und genau dieses Zittern war es, das die Stimme in Sofias Kopf vor Vorfreude seufzen ließ.
Langeweile und Niedergeschlagenheit senkten sich wie eine graue Wolke über Melody, die von Minute zu Minute finsterer zu werden schien. Ohne Ryan zog sich das
Wochenende schier endlos hin, was absolut lächerlich war, denn vor einer Woche hatte sie ihn noch gar nicht gekannt. Und jetzt hockte sie da, vermisste ihn ganz schrecklich und hatte nicht einmal jemanden, mit dem sie über Ryan hätte reden können.
Bis letzten Dienstag hätte sie mit Sofia geplaudert, doch seit ihrer Rückkehr von der Krankenstation war Sofia völlig verändert und behauptete obendrein noch, dass es ihr gutginge. Doch Melody wusste, dass das nicht stimmte.
Sofia hatte sich definitiv verändert.
Und war nicht mehr die Freundin, mit der Melody reden konnte.
Also musste sie sich irgendwie beschäftigen, irgendetwas tun, um die Zeit bis Sonntagnachmittag und Ryans Rückkehr auszufüllen.
Sie würde ihre Wäsche waschen. Und lernen.
Super.
Mit einem frustrierten Seufzer erhob sie sich von der Parkbank und ging zurück in den Schlaftrakt. Der Hof war beinahe menschenleer, und in dem Flügel, in dem die Mädchenzimmer untergebracht waren, vermisste Melody das übliche Geplapper der hundert Teenager, wenn diese unter der Woche versuchten, alle zur gleichen Zeit an verschiedene Orte zu gelangen. Ihre Schritte klangen seltsam laut, als sie den Flur entlang ging, und als sie vor ihrer Tür ankam, blieb sie lauschend stehen.
Da war noch ein anderes, noch lauteres Geräusch als ihre Schritte, und es kam aus ihrem Zimmer.
Ein schrilles Quieken, so als ob jemand starke Schmerzen litt.
Sofia saß auf ihrem Schreibtischstuhl. Und auf ihrem Schoß hockte das Kaninchenbaby und starrte sie mit großen
Augen an, viel zu verschreckt, um einen Fluchtversuch zu wagen. Nicht dass es hätte fliehen können, wenn es vor Angst nicht so gelähmt gewesen wäre, denn Sofia hielt es ständig mit einer Hand oder beiden fest.
Dabei nahm Sofia kaum wirklich wahr, was da passierte. Es war, als befände sie sich gar nicht mehr in ihrem eigenen Körper, sondern irgendwo anders - irgendwo an einem nebligen Ort, von wo aus sie beobachten konnte, was um sie herum passierte. Zwar fühlte sie die kleine Kreatur auf ihrem Schoß, spürte das winzige Herz schlagen, war jedoch zu nichts anderem imstande, als durch diese seltsamen Nebelschleier das Geschehen zu verfolgen.
Und da war noch etwas anderes. Etwas in ihrem Körper und ihrem Bewusstsein, das sie hören und fühlen, aber nicht beeinflussen konnte. Es war, als habe sich etwas ihrer bemächtigt, als kontrollierte dieses Etwas ihren Körper und ihren Verstand, sagte ihr, was sie zu tun habe, während sie selbst - die wahre Sofia - daneben stand und nicht mehr war als eine Zuschauerin.
Und während sie jetzt dabei zusah, bewegten sich ihre Hände vom Hals des kleinen Kaninchens zu seinem rechten Vorderlauf.
Sie hielt das zarte Beinchen mit beiden Händen, wie den dünnen Ast einer Weide.
Dann presste sie die Daumen auf den Knochen und erhöhte den Druck.
Doch der Knochen bog sich nicht wie ein Weidenzweig. Er knickte ab wie ein trockener Halm am Ende des Sommers.
Er zerbrach, und das kleine Kaninchenbaby quiekte.
Wenn sie es jetzt auf den Boden setzte, würde es nicht wegrennen. Wie auch, mit vier gebrochenen Beinen?
Aber sie konnte es noch nicht auf den Boden setzen, noch nicht. Die Stimme - der Dämon - das Ding in ihr ließ es nicht zu. Nein, da gab es noch mehr zu tun, mehr Schmerzen, die sie dem winzigen Kaninchen zufügen konnte, mehr …
Die Tür hinter ihr ging auf, und sie hörte einen leisen Schrei. Sofia drehte sich um und sah Melody dastehen, die sie mit entsetzter Miene anstarrte.
»Mein Gott«, wisperte Melody, die beim Anblick des wimmernden Tierchens in Sofias Händen kreidebleich geworden war. »Was tust du denn da?«
Sofia stand auf und stellte sich vor Melody hin, doch die schaute sie gar nicht an, sondern starrte wie gebannt auf das völlig verängstigte und so brutal malträtierte Kaninchenbaby in Sofias Händen. Und unter Melodys entsetzten Blicken packte Sofia den einen Hinterlauf des Tierchens und drehte ihn mit einem Ruck herum.
Das Tier schrie abermals, so herzzerreißend, dass Melody sich abwenden
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