Das Teufelsspiel
würde ein Sozialarbeiter kommen und meine Lebensumstände in Augenschein nehmen. Dann würde man mich zu meiner Tante nach Alabama schicken. Sie wohnt in der Nähe von Selma, in einem Dorf mit dreihundert Einwohnern. Wissen Sie, was für eine Ausbildung ich dort bekommen würde? Oder ich bleibe hier und lande in einem Waisenheim in Brooklyn, eingepfercht in einem Zimmer mit vier Mädchen aus irgendeiner Bande. Rund um die Uhr dröhnt Hip-Hop aus den Boxen, im Fernsehen läuft irgendein Mist, und sonntags schleift man mich in die Kirche …« Schaudernd schüttelte sie abermals den Kopf.
»Deshalb der Job.« Rhyme schaute auf ihre Arbeitskleidung.
»Deshalb der Job. Jemand hat mich mit einem Typen bekannt gemacht, der Führerscheine fälscht. Laut meinem bin ich nun achtzehn.« Sie lachte auf. »Ich weiß, ich sehe nicht so aus. Aber ich habe mich bei einer Filiale beworben, die von einem älteren Weißen geleitet wird. Er war einfach nicht in der Lage, von meinem Aussehen auf mein Alter zu schließen. Seitdem arbeite ich dort. Und ich habe noch nie gefehlt. Bis heute.« Sie seufzte. »Mein Boss wird es herausfinden und mich feuern müssen. Mist. Wo ich doch erst letzte Woche meinen anderen Job verloren habe.«
»Du hattest zwei Jobs?«
Das Mädchen nickte. »Ich hab Graffiti abgeschrubbt. In Harlem wird derzeit viel renoviert. An jeder Ecke gibt’s eine Baustelle. Einige große Versicherungs- oder Immobilienkonzerne richten die alten Gebäude wieder her und vermieten sie für viel Geld. Die Baufirmen haben ein paar Kids angeheuert, um die Mauern zu säubern. Es gab gutes Geld. Aber ich wurde entlassen.«
»Weil du noch minderjährig bist?«, fragte Sachs.
»Nein, weil ich diese Arbeiter gesehen habe, drei kräftige Weiße, die bei irgendeiner Immobilienfirma angestellt sind. Sie haben ein altes Ehepaar schikaniert, das schon seit Ewigkeiten in dem Haus gewohnt hat. Ich sagte denen, sie sollten aufhören, oder ich würde die Polizei holen …« Sie zuckte die Achseln. »Man hat mich gefeuert. Ich hab zwar die Polizei verständigt, aber die sah keinen Anlass, etwas zu unternehmen … So viel zum Thema gute Taten.«
»Und daher wolltest du auch nicht die Hilfe dieser Psychologin, Mrs. Barton, in Anspruch nehmen«, sagte Bell.
»Sobald sie herausfindet, dass ich obdachlos bin, verfrachtet sie mich ins Heim.« Sie erschauderte. »Ich war so nah dran! Ich hätte es schaffen können. Noch anderthalb Jahre und ich wäre weg gewesen, in Harvard oder am Vassar College. Dann taucht gestern dieser Kerl im Museum auf und macht alles zunichte!«
Geneva stand auf, ging zu der Tafel und musterte den Tabellenabschnitt, der die Einzelheiten über Charles Singleton enthielt. »Deshalb habe ich mir ihn als Thema ausgesucht. Ich musste herausfinden, dass er unschuldig war. Ich wollte, dass er ein freundlicher Mensch und ein guter Ehemann und Vater gewesen ist. Die Briefe waren so wundervoll. Er konnte sich so gut ausdrücken. Sogar seine Handschrift war hübsch.« Sie wandte sich zu Rhyme um. »Und er war ein Held im Bürgerkrieg und hat Kinder unterrichtet und die Waisen vor dem randalierenden Pöbelhaufen gerettet. Ich hatte auf einmal einen Verwandten, der Gutes getan hat. Der klug war, der berühmte Leute gekannt hat. Ich wollte, dass er jemand ist, den ich bewundern kann, nicht jemand wie mein Vater oder meine Mutter.«
Luis Martinez steckte den Kopf zur Tür herein. »Er ist sauber. Name und Adresse stimmen, keine Vorstrafen, keine offenen Haftbefehle.« Er hatte den falschen Onkel überprüft. Rhyme und Bell trauten mittlerweile niemandem mehr.
»Du musst einsam sein«, sagte Sachs.
Einen Moment lang herrschte Stille. »Bevor mein Daddy weggelaufen ist, hat er mich manchmal in die Kirche mitgenommen. Da gab es einen Gospelsong, der uns besonders gefallen hat. Er heißt ›Ain’t Got Time to Die‹ – ›Ich habe keine Zeit, um zu sterben‹. So ähnlich ist es auch bei mir. Ich habe keine Zeit, um einsam zu sein.«
Aber Rhyme kannte Geneva inzwischen gut genug, um zu erkennen, dass sie nicht die Wahrheit sagte.
»Du hast also ein Geheimnis, genau wie dein Vorfahr«, stellte er fest. »Wer weiß davon?«
»Keesh, der Verwalter und seine Frau. Das sind alle.« Sie sah Rhyme herausfordernd an. »Sie werden mich melden, nicht wahr?«
»Du kannst doch nicht allein leben«, sagte Sachs.
»Ich komme seit zwei Jahren allein zurecht«, protestierte Geneva. »Ich habe meine Bücher und die Schule. Ich brauche sonst
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