Das Teufelsspiel
überschwemmt; sie bewältigten mehr als siebenhunderttausend Analysen pro Jahr.
Um diese Zuckerkrümel untersuchen zu lassen, hätten sogar die höchstrangigen Beamten New Yorks sich zu all den anderen in die Warteschlange einreihen müssen. Doch Lincoln Rhyme hatte besonders gute Beziehungen – Fred Dellray, Special Agent bei der Zweigstelle des FBI in Manhattan, arbeitete oft mit Rhyme und Sellitto zusammen und verfügte in seiner Behörde über beträchtlichen Einfluss. Von ebenso großer Bedeutung war die Tatsache, dass Rhyme dem FBI behilflich gewesen war, eine eigene Einheit zur Spurenauswertung aufzubauen: PERT, das Physical Evidence Response Team. Seilitto rief Dellray an, der zurzeit für das Sonderdezernat tätig war, das die potenziellen Bombenanschläge auf New York untersuchte. Dellray setzte sich mit der Washingtoner FBI-Zentrale in Verbindung, und binnen weniger Minuten stand ein Techniker bereit, um sie bei den Ermittlungen gegen Täter 109 zu unterstützen. Cooper schickte ihm in einer verschlüsselten E-Mail die Ergebnisse der spektrometrischen Analyse sowie komprimierte Digitalbilder der Substanz.
Es vergingen höchstens zehn Minuten, dann klingelte das Telefon.
»Kommando, Telefon, Abheben«, herrschte Rhyme die Spracherkennung seines Kontrollsystems an.
»Detective Rhyme, bitte.«
»Am Apparat.«
»Mein Name ist Philips. Ich rufe aus der Neunten Straße an.« Gemeint war die Neunte Straße in Washington. Die FBI-Zentrale.
»Was haben Sie für uns?«, fragte Rhyme forsch.
»Und vielen Dank, dass Sie sich so schnell bei uns melden«, warf Sachs hastig ein. Sie musste bisweilen eingreifen, um den durch Rhymes Grobheit angerichteten Schaden zu begrenzen.
»Gern geschehen, Ma’am. Tja, was Sie uns hier geschickt haben, kam mir ziemlich seltsam vor. Also hab ich es an unsere Materialanalyse weitergereicht. Dann ging alles ganz fix. Die Substanz wurde mit siebenundneunzigprozentiger Gewissheit identifiziert.«
Wie gefährlich ist dieser Sprengstoff?, dachte Rhyme. »Und? Was ist es?«, fragte er.
»Zuckerwatte.«
Dieses Synonym kannte er noch nicht. Aber es gab eine neue Generation von Sprengstoffen, die mit einer Geschwindigkeit von mehr als neuntausend Metern pro Sekunde detonierten, zehnmal schneller als eine Gewehrkugel. Gehörte dieser dazu? »Mit welchen Eigenschaften?«, fragte er.
Einen Moment lang herrschte Stille. »Sie schmeckt lecker.«
»Was war das?«
»Sie ist süß. Sie schmeckt lecker.«
»Soll das heißen, es ist echte Zuckerwatte, so wie auf einem Jahrmarkt?«, fragte Rhyme.
»Ja. Was haben Sie denn geglaubt, das ich meine?«
»Ach nichts, schon gut.« Der Kriminalist seufzte auf. »Und die Harnsäure stammt von irgendeiner Hundepfütze, in die der Täter auf dem Gehweg getreten ist?«
»Ich kann nicht sagen, wo er in die Pfütze getreten ist«, erklärte der Techniker und bestätigte damit die Präzision, für die das Labor bekannt war. »Aber Sie haben Recht, die Probe wurde positiv auf Hunde-Urin getestet.«
Rhyme bedankte sich und unterbrach die Verbindung. Dann wandte er sich den anderen zu. »Unter seinem Schuh kleben gleichzeitig Popcorn und Zuckerwatte. Wo kann unser Mann gewesen sein?«
»Bei einer Sportveranstaltung?«
»Die New Yorker Teams hatten in den letzten Tagen keine Heimspiele. Ich vermute eher, unser Täter hat sich gestern oder vorgestern auf einem Volksfest aufgehalten.« Er sah Geneva an. »Bist du in letzter Zeit auf einem Jahrmarkt gewesen? Könnte er dich dort gesehen haben?«
»Ich? Nein, ich gehe eigentlich nie auf Jahrmärkte.«
Rhymes Blick richtete sich auf Pulaski. »Da Sie sich nun nicht mehr um die Insekten kümmern müssen, Officer, möchte ich, dass Sie herumtelefonieren und herausfinden, welche behördlichen Genehmigungen erteilt wurden, und zwar für Jahrmärkte, Umzüge, Festivals, religiöse Feiern, was auch immer.«
»Geht klar«, sagte der Neuling.
»Was haben wir sonst noch?«, fragte Rhyme.
»Flocken vom Schlitten des Mikrofilmlesegeräts, wo er es mit dem stumpfen Gegenstand getroffen hat.«
»Flocken?«
»Von seinem Schlagwerkzeug ist etwas Lack abgeplatzt, schätze ich.«
»Okay, schick es nach Maryland.«
Das FBI unterhielt in Maryland eine riesige Datenbank aktueller und früherer Farben. Sie wurde meistens dazu genutzt, Fahrzeuglacke zu identifizieren, hatte aber auch Hunderte von anderen Proben gespeichert. Nach einem weiteren Anruf von Dellray schickte Cooper die Spektrometerresultate und alle
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