Das Teufelsspiel
etwas zu sagen. Zum Beispiel: He, Lon, das wäre doch eine gute Idee. Oder: Schon in Ordnung. Wir kommen ohne Sie klar.
Aber sie sagte nichts. Was, wie alle wussten, eine Äußerung zu seinen Gunsten war.
»Ich habe gehört, dass heute Morgen vor Ihren Augen ein Zeuge erschossen wurde«, sagte der Captain. »Hat das etwas mit dem jetzigen Zwischenfall zu tun?«
Ja, verdammt … nein, verdammt …
»Keine Ahnung.«
Wieder ein langes Zögern. Aber eines musste man der Führungsetage des NYPD lassen; diese Leute erlangten ihre Positionen nicht ohne zu wissen, wie das Leben hier draußen aussah und was es mit den Cops anstellte. »Also gut, ich belasse Sie im Dienst. Aber Sie suchen einen Psychologen auf.«
Er wurde rot. Man schickte ihn zu einem Irrenarzt. Doch er sagte: »Natürlich. Ich lasse mir gleich einen Termin geben.«
»Gut. Und halten Sie mich über die Fortschritte auf dem Laufenden.«
»Ja, Sir. Danke.«
Der Captain gab ihm die Waffe zurück und begleitete Bo Haumann zu der mobilen Leitstelle. Sellitto und Sachs gingen zu dem Fahrzeug der Spurensicherung, das soeben eingetroffen war.
»Amelia …«
»Schwamm drüber, Lon. Es ist eben passiert, und damit hat sich’s. Das kommt andauernd vor.« Laut Statistik wurden Polizisten sehr viel eher von ihren eigenen oder den Schüssen ihrer Kollegen getroffen als von den Kugeln eines Täters.
Der massige Detective schüttelte den Kopf. »Ich hab …« Und dann wusste er nicht mehr weiter.
Sie gingen schweigend auf den Wagen zu. »Eines noch, Lon«, sagte Sachs schließlich. »Die Sache wird sich herumsprechen. Sie wissen, wie das läuft. Aber kein Zivilist wird davon hören. Nicht von mir.« Auch Lincoln Rhyme, der nicht in die tägliche Polizeiarbeit eingebunden war und von den internen Gerüchten verschont blieb, würde nur durch einen von ihnen von dem Zwischenfall erfahren.
»Darum wollte ich Sie gar nicht bitten.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Ich möchte Sie nur wissen lassen, wie ich mit der Sache umgehen werde.« Sie fing an, die Ausrüstung auszuladen.
»Danke«, sagte er mit belegter Stimme. Dann fiel ihm auf, dass die Finger seiner linken Hand wieder über die unsichtbaren Blutflecke auf seiner Wange rieben.
Tapp, tapp, tapp …
»Hier gibt’s nicht viel zu holen, Rhyme.«
»Mach einfach weiter«, ertönte seine Stimme in ihrem Headset.
Sie hatte den weißen Tyvek-Overall angezogen und schritt in der kleinen Wohnung – die aufgrund des kargen Mobiliars nur als vorübergehendes Versteck gedient haben konnte – soeben das Gitternetz ab. Die meisten professionellen Killer verfügten über einen Ort wie diesen. Sie bewahrten dort Waffen und Vorräte auf, planten die nächsten Morde oder suchten Zuflucht, falls etwas schief ging.
»Beschreib die Einrichtung«, bat er.
»Ein Feldbett, ein gewöhnlicher Tisch, ein Stuhl, eine Lampe. Ein Fernsehgerät, an das eine im Treppenhaus angebrachte Überwachungskamera angeschlossen ist. Der Hersteller des Systems heißt Video-Tect, aber unser Täter hat die Aufkleber mit den Seriennummern entfernt, also wissen wir nicht, wann und wo es gekauft wurde. Ich habe Kabel und einige Relais gefunden, mit deren Hilfe er die Tür unter Strom gesetzt hat. Die sichergestellten Fußspuren passen zu den Bass-Halbschuhen. Ich habe alles eingestäubt und keinen einzigen Fingerabdruck gefunden. Er muss in seinem Versteck Handschuhe getragen haben – was sagt uns das?«
»Außer der Tatsache, dass er verdammt gerissen ist?«, erwiderte Rhyme. »Vermutlich hat er die Wohnung nicht besonders geschützt und wusste, dass sie irgendwann auffliegen würde. Ich hätte wirklich gern einen Fingerabdruck. Der Kerl ist definitiv irgendwo gespeichert. Vielleicht sogar mehrfach.«
»Ich habe die restlichen Tarotkarten gefunden, aber auf der Schachtel klebt kein Etikett eines Ladens. Und es fehlt nur die Karte Nummer zwölf, die er am Tatort zurückgelassen hat. Okay, ich mache jetzt weiter.«
Sie widmete sich aufmerksam wieder dem Gitternetz – obwohl die Wohnung klein war und man sie zum größten Teil überblicken konnte, indem man sich in die Mitte stellte und einmal um die eigene Achse drehte. Sachs fand ein verstecktes Beweisstück: Als sie an dem Feldbett vorbeikam, fiel ihr auf, dass unter dem Kissen ein kleines Stück Papier hervorragte. Sie zog das Blatt heraus und faltete es vorsichtig auseinander.
»Hier ist was, Rhyme. Ein Lageplan der Straße, an der das afroamerikanische Museum steht. Er ist ziemlich
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