Das tibetische Orakel
Erde, die in keinem gutem Zustand waren. Sie dienten den Mönchen augenscheinlich als Unterkünfte und beinhalteten ferner die vielen Meditationszellen und kleinen Götterschreine, die man in traditionellen Klöstern häufig antraf. Jeder der Fachwerkbauten besaß eine kleine leere Veranda, auf der normalerweise mehrere Gebetsmühlen gehangen hätten. Das jeweils erste dieser Gebäude auf beiden Seiten des Haupthofs war renoviert worden, um den neueren Häusern im Zentrum zu gleichen und dem Eingangsbereich ein gepflegtes Erscheinungsbild zu verleihen. Über der Tür hing jeweils ein langes rotes Holzschild, auf dem man in goldenen Buchstaben das mani-Mantra eingeprägt hatte.
Der Abt begleitete sie zu dem niedrigen Haus zur Linken, entschuldigte sich und verkündete, daß einer der jungen Novizen sie auf dem Gelände herumführen würde. Der nervöse Schüler zeigte ihnen Haken, an denen sie ihre Habseligkeiten aufhängen konnten, und erklärte, daß es sich bei Norbu um das Hauptkloster der Region handle, dessen fünfunddreißig Mönche und Novizen sich einer der höchsten Wertungen von ganz Tibet rühmen könnten.
»Was genau meinen Sie damit?« fragte Shan, während der junge Mann sie nach draußen und vorbei an den ersten beiden Zentralgebäuden führte. Das eine, so hatte Shan schnell erkannt, diente Verwaltungszwecken, das andere beherbergte den Speisesaal und mehrere Unterrichtsräume.
Der Novize verzog das Gesicht. »Das Büro für Religiöse Angelegenheiten vergibt Punkte für angemessenes Betragen«, sagte er und starrte dabei reglos nach vorn. »Und für Klarheit«, fügte er seltsam melancholisch hinzu und beschleunigte den Schritt. Im südöstlichen Winkel der hohen Mauer standen ein langes Holzhaus und ein Stall, beide sehr baufällig. Sie waren die letzten Überbleibsel eines alten Klosters und schienen sich dicht aneinanderzukauern, als wollten sie den größeren, moderneren Gebäuden im Zentrum der Anlage die Stirn bieten. Shan nahm die Bauten genau in Augenschein. Man hatte sie aus Holzbohlen errichtet. An den Wänden lehnten Schaufeln und Harken, und neben dem Stall stand ein Stapel abgewetzter Körbe mit breiten Schulterriemen und gepolsterten Schlaufen. Shan kannte solche Körbe; vier Jahre lang hatte er selbst fast täglich ein solches Ungetüm auf dem Rücken getragen, dabei die lange Schlaufe um die Stirn gelegt und beim Straßenbau der Regierung Felsen und Schotter geschleppt. Hinter den Gebäuden sah er in der Ecke der Außenmauer einen vierrädrigen Holzwagen und einen großen Dunghaufen. Darüber erhob sich im Schatten der Pappeln, die jenseits der Mauer wuchsen, ein hoher schlanker Mast, an dem eine lange Funkantenne und eine Satellitenschüssel befestigt waren.
Nyma lief zu einem Gestell nahe der Mitte der rückwärtigen Mauer, an dem ein riesiger Zylinder hing, eine herrlich gearbeitete Gebetsmühle. Doch als sie die Mühle berühren wollte, hielt der Novize sie durch einen Zuruf davon ab. Dann erhöhte er abermals das Tempo, um die Gruppe vorbei an einer Reihe geparkter Fahrzeuge zu führen, darunter ein großer Transporter, der als Ambulanz gekennzeichnet war. Ein finster blickender Han-Chinese in himmelblauer Uniform kam hinter dem Wagen zum Vorschein und sah die Fremden durchdringend an, während er sich eine Zigarette anzündete.
»Ein Sanitätsteam aus Lhasa«, erklärte der Novize mit nervöser Jungenstimme. »Sie fahren hier durch die Gegend, um der Bevölkerung zu helfen. Ihre Tour dauert nun schon mehrere Wochen. Angefangen haben sie im Süden nahe der indischen Grenze und dann auf ihrem Weg viele Dörfer und Lagerplätze besucht. Die Leute hier bekommen nur sehr selten richtige Ärzte zu Gesicht.«
Richtige Ärzte. Lokesh warf Shan einen Blick zu. Früher hatte es in dieser Gegend eine Ausbildungsstätte für richtige Ärzte gegeben, und zwar auf der Ebene der Blumen.
Tenzin war neben dem Dunghaufen stehengeblieben. Als er die anderen wieder einholte, bemerkte Shan, daß an seinen Wangen etwas von dem trockenen, staubigen Material des Haufens klebte und er sich die Mütze tief ins Gesicht gezogen hatte.
Als sie um die Ecke im Südwesten bogen, kam ein durch Pfosten und Seile abgegrenzter Bereich in Sicht, in dem ungefähr zwanzig Tibeter in einer Reihe nebeneinander standen. An der Tür eines kleinen Gebäudes hatten sich einige Männer und Frauen versammelt, überwiegend Han und alle in diesen hellblauen Uniformen, und musterten die Wartenden. Die rongpas und
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