Das tibetische Orakel
dropkas dort wirkten alle genauso nervös wie der junge Mönch. Sie sahen nicht krank aus. Sie sahen aus, als hätten sie Angst.
Ein Mann mit einer Schaffellweste rief Lhandro beim Namen und winkte ihn zu sich, als traue er sich nicht, die Reihe zu verlassen. Doch als Lhandro einen Schritt in seine Richtung machte, hielt der Novize ihn mit sanfter Geste zurück. »Die Ärzte wünschen keine Störung«, sagte er ernst. Shan hörte, daß einer der Männer in Blau die Tibeter anwies, ihre Papiere zur Überprüfung bereitzuhalten.
Das dritte der zentralen Gebäude war länger, etwas niedriger und nicht in so gutem Zustand wie die anderen beiden. An der Rückwand bröckelte der Putz ab. Zwei rote Pfeiler säumten eine dicke Holztür, die mit geschnitzten Szenen aus dem Leben des historischen Buddha verziert war. Sie schien aus einem älteren Bauwerk zu stammen und war in einen Metallrahmen eingefaßt worden. Über die schlichten Dielen eines Korridors gelangten sie in einen großen Saal mit Betonboden. Auf Kissen saß ein halbes Dutzend Mönche vor einem Altar mit gelbem Plastiktischtuch. Darauf stand eine mehr als einen Meter hohe und in grellen Farben bemalte Gipsstatue des historischen Buddha Sakyamuni. Neben dem Buddha hatte man ein Tischchen mit Opferschalen und einem schwelenden Weihrauchkegel aufgestellt.
»Unsere lhakang« , erklärte der Führer. Die Halle der Hauptgottheit.
Lokesh warf einen Blick auf die Statue und ließ sich zwischen den Mönchen auf dem kalten harten Boden nieder. Ihr Begleiter hob die Hand, als wolle er etwas einwenden, doch dann setzten auch Nyma und Tenzin sich hin.
»Es gibt ja so wenige Tempel in den Bergen«, stellte Shan spöttisch fest.
Der Mönch sah ihn an und öffnete neugierig den Mund, um eine Frage zu stellen, doch als auch Lhandro sich zu den anderen gesellte, zuckte er nur die Achseln. »Bitte seien Sie beim Abendessen unsere Gäste. Achten Sie auf die Glocke.«
Dann drehte er sich um und verließ den Raum.
Shan saß eine halbe Stunde bei seinen Freunden, atmete den duftenden Weihrauch ein, betrachtete eine Reihe kürzlich gemalter thangkas an der Wand, verschränkte die Beine im Lotussitz und streckte sie wieder aus. Es gelang ihm nicht, die zur Meditation notwendige Ruhe zu finden, und so stand er auf, ging hinaus und folgte einer niedrigen alten Steinmauer, die zwischen dem zweiten und dritten Haus verlief und ursprünglich als massives Fundament eines großen Bauwerks gedient hatte. Langsam umrundete er die anderen beiden Zentralgebäude, registrierte zufrieden die Leinen voller Gebetsfahnen, die zwischen ihren Giebeln gespannt waren, und fand sich schließlich vor der Gebetsmühle im hinteren Teil der Anlage wieder. Sie war prächtig aus Kupfer und Messing gearbeitet, knapp zwei Meter hoch und etwa halb so breit. Shan berührte sie und stellte zu seiner Überraschung fest, daß sie sich mühelos in Bewegung setzte und fast eine ganze Umdrehung vollführte. Die Aufhängung bestand aus schweren Kugellagern, als hätte kein Mönch, sondern ein Ingenieur diese Konstruktion entworfen. Unten an dem Gestell fiel Shan eine Tafel auf, die chinesisch und tibetisch beschriftet war. Er hatte ähnliche Schilder an Gebetsmühlen und Statuen schon häufiger gesehen. Meistens trugen sie den Namen eines Jugendbundes oder Fördervereins, der das jeweilige Stück gestiftet hatte. Doch sowohl diese Tafel als auch die riesige Gebetsmühle waren anders. Betriebszeit 8 bis 20 Uhr , lautete die Aufschrift. Shan starrte das Schild ungläubig an. Dann hörte er jemanden bei dem alten Stall neben dem riesigen Dunghaufen. Vorsichtig näherte er sich dem Geräusch und entdeckte einen stämmigen Mönch, der zu einem großen zottigen schwarzen Yak sprach. Der Mann schaufelte Dung auf den Holzwagen und redete im Plauderton auf das Tier ein.
Nach einem Moment erkannte Shan, daß er den Mönch zuvor schon gesehen hatte. Er schlich sich in den Schatten der Stallwand und beobachtete den Mann, der so sehr in die Arbeit und das Gespräch mit dem Yak vertieft war, daß fünf Minuten vergingen, bis er Shan bemerkte. Er hielt kurz inne und verstummte, nur um im nächsten Augenblick mit seiner Tätigkeit fortzufahren.
»Ich hoffe, ihr seid neulich nicht noch mal steckengeblieben«, sagte Shan.
Der Mönch drehte sich um und grunzte, während er erst Shan und dann das Gelände hinter ihm betrachtete. Er nickte zögernd. »Noch zweimal. Daraufhin haben sie ihre Pläne geändert und sind hierher
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