Das tibetische Orakel
hin und her tänzeln und starrte Shan besorgt an. Es schien ihm nicht zu gefallen, daß die Gruppe sich aufteilte. Als das letzte der Schafe auf den nördlichen Pfad einbog, trabte er an Shans Seite. »Er kann laufen«, sagte Dremu laut und in Padmes Hörweite. »Geht nicht. Laßt ihn allein nach Hause wandern.«
Nyma warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Wir wissen, wie man sich um einen verletzten heiligen Mann zu kümmern hat«, erklärte sie schroff. Der Mönch stöhnte und hielt sich den Kopf. Er ließ nicht erkennen, ob er Dremu gehört hatte.
Der golok erwiderte Nymas Blick. »Fragt ihn doch mal, wie Mönche sich in die Angelegenheiten der Himmelsgötter einmischen«, knurrte er. Dann trieb er sein Pferd an und galoppierte davon.
Shan musterte die Schafe, die von den Hunden den Pfad hinaufgetrieben wurden. Dremus seltsame Beziehung zu dem chenyi-Stein schien ihn gegen jeden einzunehmen, der für eine Verzögerung oder einen Umweg sorgte. Aber der golok würde schon bald wieder dafür sorgen, daß der rote Beutel bei der Karawane blieb. Shan und die anderen würden nur ein paar Stunden fort sein. Dann waren es bloß noch zwei weitere Tage bis nach Yapchi.
Shans Sorge legte sich rasch und wich einem unerwarteten Gefühl der Vorfreude. Sie überquerten den Grat, der das Plateau im Süden begrenzte, und stiegen dann durch einige niedrige Hügel hinab auf eine breite Ebene. Er hatte erst sehr wenige gompas besucht, vor allem nicht solche, die offen und legal praktizieren durften, ausgestattet mit Lamas und ihren Schülern, und er vermißte die heiteren Stimmen der Lehrmeister. An den Gesichtern seiner tibetischen Gefährten konnte er ablesen, daß Padmes Versprechen eines Segens der heiligen Männer von Norbu auch für sie eine gewisse Bedeutung besaß.
Am späten Nachmittag erreichten sie den letzten der langen flachen Kämme und erblickten unter sich einen Gebäudekomplex, der von einem Ring aus blühenden Pappeln umgeben wurde. Die meisten der Häuser schienen aus Stein errichtet worden zu sein, besaßen hübsche graue Ziegeldächer und waren in einer hellen Farbe gestrichen. Um sie herum verlief eine quadratische weiße Außenmauer von etwa zweihundert Metern Seitenlänge. Im Zentrum der gepflegten Anlage standen drei große Gebäude, deren Mauern sich im oberen Bereich leicht nach innen neigten. Bis auf Höhe der Fenster im ersten Stock besaßen sie denselben hellen Pastellton, darüber jedoch waren sie kastanienbraun, entsprechend der Farbe eines Mönchsgewands. Lhandro und Nyma, die das vordere Ende der Trage hielten, stießen wie aus einem Mund Freudenlaute aus und forderten den geschwächten Padme auf, einen Blick auf sein gompa zu werfen.
»Ich hätte nie mit einem so großen Kloster gerechnet!« rief Lhandro. Er warf Nyma einen aufmunternden Blick zu. »Die Welt ändert sich doch, wie du siehst.«
Als sie die Trage wieder anheben wollten, zog Nyma eine Kordel aus Yakhaar hervor und band sie sich um die Taille, so daß ihr Gewand wie ein Kleid aussah. Shan war einen Moment lang verwirrt, aber dann schaute Lhandro von Nyma zu dem gompa , nickte ernst, zog seine Weste aus und reichte sie ihr, während die Nonne ihre langen Zöpfe löste. Obwohl sich manches veränderte und obwohl dies hier ein gompa war, bedeutete es doch, daß Nyma in die Außenwelt hinabstieg, wo sogar ein flüchtiger Beobachter schnell auf den Gedanken kommen könnte, daß sie eine Nonne war, und nach ihrer Lizenz fragen würde.
Als sie nur noch wenige hundert Meter von dem Kloster entfernt waren, drehte Lhandro sich ungehalten zu Lokesh um. Shan bemerkte, daß sein Freund am hinteren Ende der Trage das Tempo verringert hatte und dadurch ihr Fortkommen behinderte.
»Das gompa« , rief der Bauer ihm nachdrücklich ins Gedächtnis. Der alte Tibeter lächelte matt und beschleunigte seinen Schritt. Seine Begleiter waren es längst gewohnt, daß Lokesh häufig auf irgendeine Besonderheit in der Landschaft starrte, doch Shan registrierte noch etwas anderes, das die Freunde nicht sahen und das er selbst erst nach vielen Jahren wahrzunehmen gelernt hatte. Lokesh war nicht nur bisweilen anfällig für unvermutet heftige Gefühlsregungen, sondern besaß manchmal auch eine fast unheimlich wirkende Intuition. Er konnte wie ein Pferd sein, das von Natur aus spürte, ob jemand sich auf der anderen Seite eines Hügels näherte, oder wie ein Pfeifhase, der aus seinem Loch sprang und schrille Alarmsignale gab, bevor eine Lawine
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