Das tibetische Orakel
niederging.
Vor drei Monaten war Lokesh plötzlich stehengeblieben und hatte Shan zurückgehalten, als sie zum viertenmal an jenem Tag einen zugefrorenen Fluß überqueren wollten. Der alte Tibeter war nicht in der Lage gewesen, Shans Fragen zu beantworten, sondern hatte lediglich dagestanden und ein heiseres Krächzen ausgestoßen. Nachdem sie zehn Minuten dort ausgeharrt hatten, war Shan ein Schauder über den Rücken gelaufen, weil der Fluß zu knirschen begann und mit einem tieferen, aber irgendwie ähnlichen Geräusch auf Lokeshs Krächzen zu reagieren schien. Dann war jäh die Oberfläche gebrochen, und in der Mitte des Flusses hatte sich ein langer breiter Spalt aufgetan, in dem schwarzes Eiswasser strömte.
Empfand Lokesh nun eine vergleichbare Vorahnung? War es auch Dremu, dem wilden golok , so ergangen, als er Shan und die anderen an der Abzweigung aufgefordert hatte, Padme zurückzulassen? Shan ließ den Freund nicht aus den Augen, während Padme sich auf der Trage zu regen begann. Lokesh schaute nicht zu dem gompa , sondern darüber hinweg zu einem schmalen grauen Band, das zum Horizont führte. In Richtung der nördlichen Fernstraße, die ungefähr fünfzig Kilometer von hier verlief. Eine Straße bedeutete Patrouillen.
Knapp vierhundert Meter vor dem Kloster hob Padme mühsam einen Arm und ließ sie anhalten. »Ich will nicht auf diese Weise heimkehren«, sagte er mit matter, aber tapferer Stimme und erhob sich von der Trage. Er schloß den Reißverschluß der gelben Weste und ging los, zunächst auf wackligen Beinen und merklich geschwächt, dann mit größeren, sichereren Schritten. Ein Mönch auf einer Leiter, der die Außenmauer kalkte, hielt bei seiner Arbeit inne und rief etwas mit lauter Stimme. Kurz darauf liefen mehrere Mönche aus dem gompa , um Padme zu begrüßen.
»Rinpoche! Wir wollten schon nach dir suchen!« rief der erste, der ihn erreichte, und schrie dann entsetzt auf, als er die Wunden an Gesicht und Armen des Neuankömmlings bemerkte.
Padme war sogleich von zahlreichen Mönchen umgeben, die ihn vorsichtig stützten und vorbei an einigen heruntergekommenen Behausungen durch das Tor des Klosters führten, zu dessen beiden Seiten jeweils eine hohe quadratische Säule stand. Shan und seine Freunde starrten verunsichert das gompa an, als plötzlich ein kleiner brauner Hund angerannt kam und Tenzin anbellte. Das Tier war regelrecht außer sich und zerrte an seinem Hosenbein, bis es einriß. Tenzin wollte dem Hund eine Hand auf den Kopf legen, aber das Tier biß sofort zu. Auf einmal flog ein Stein durch die Luft und traf den Hund in die Seite. Er jaulte auf und floh um die Ecke der Außenmauer.
Lhandro ging zu Tenzin und holte eine Wasserflasche hervor, um dessen blutenden Finger zu säubern. Shan nahm unterdessen die kleinen Bauten vor dem Tor in Augenschein. Vor einem der Häuser aus bröckelnder Erde saß unter einem primitiven Vordach ein Mann mit struppigem weißem Haar und ledriger Haut und bediente mit dem Fuß eine alte Nähmaschine. Er schien an einem Mönchsgewand zu arbeiten. Ein weiterer, fast genauso alter Mann, dessen Kopf dick bandagiert war, lehnte schlafend an einem rostigen Metallfaß. Eine alte Frau, die eine vielfach geflickte chuba trug und deren Augen der graue Star getrübt hatte, saß im Eingang einer der anderen Unterkünfte, die kaum mehr als Hütten waren, und drehte eine kleine Gebetsmühle. Niemand hob den Kopf. Niemand ließ sich von Padmes Rückkehr oder auch nur der Vertreibung des kleinen Hundes zu einem fröhlichen Lächeln verleiten.
Hier draußen vor dem Tor gab es nur ein einziges neues Bauwerk, und zwar einen langgestreckten, schmalen offenen Unterstand mit Wellblechdach und unbefestigtem Boden. Es war ein vertrauter Anblick aus Shans früherer Inkarnation; in Peking nannte man diese Buden meistens Zeitungshütten, andere bevorzugten den Begriff »Parteischeißhäuser«. An der Rückwand im Innern hing in einem langen Glaskasten eine jüngere Ausgabe der offiziellen Tageszeitung aus Lhasa, die in chinesischer Sprache gedruckt wurde. Shan sah sich noch einmal nach den Tibetern um, die hier vor dem Tor saßen. Er bezweifelte, daß einer von ihnen Chinesisch sprechen, geschweige denn lesen konnte. Zögernd trat er ein und ließ den Blick über die Zeitungsseiten schweifen. Neben dem Glaskasten war ein schwarzes Brett angebracht, an dem einige örtliche Verlautbarungen hingen. Er überflog die Artikel. Eine Rede des Vorsitzenden aus Peking zum
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