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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Thema Außenpolitik war in voller Länge nachgedruckt worden und nahm drei Seiten ein. Eine Firma aus Shanghai, deren Namen Shan kannte und die zum Eigentum der Volksbefreiungsarmee zählte, errichtete zu Füßen des Potala ein Touristenhotel. Die Nutzholzgewinnung im östlichen Tibet brach auch weiterhin sämtliche Rekorde. Der geliebte Abt von Sangchi gompa, einem der größten Klöster Tibets, war nicht - wie zuvor berichtet - nach Indien geflohen, sondern laut neuester Erkenntnisse von Anhängern des Dalai-Kults entführt worden, eine von Pekings bevorzugten Bezeichnungen für all jene in Tibet, die sich der Parteilinie widersetzten. Südöstlich von Lhasa hatte man ein neues Wasserkraftwerk eingeweiht. Ein leitendes Mitglied des Dalai-Kults, der berüchtigte Tiger, galt als Hauptverdächtiger für den Mord an Chao Yu, dem heroischen stellvertretenden Direktor des Büros für Religiöse Angelegenheiten der Stadt Amdo. Diesen Bericht las Shan zweimal. Es wurden keine Beweise angeführt, lediglich eine Bekanntmachung der öffentlichen Sicherheit zu den gewaltsamen und verräterischen Aktivitäten des Tigers. Ein Begleitartikel führte aus, daß der Tiger, diese verhaßte reaktionäre Marionette des Dalai-Kults, von den Kräften der öffentlichen Sicherheit schon bald gestellt und der raschen Gerichtsbarkeit des Volkes überantwortet werden würde. Eine tibetische Schule in der Provinz Qinghai hatte dem Vorsitzenden eine Landkarte Chinas geschickt, die vollständig aus Reiskörnern zusammengesetzt war. In Shigatse hatte eine chinesische Schülerin ein Lamm vor dem Ertrinken gerettet. Daneben war ein Foto des Tiers abgedruckt. Shan gelangte zu dem Anschlagbrett, das zur Hälfte unter einem gemeinsamen Aushang des hiesigen Bezirksrats und der Klosterleitung von Norbu gompa verschwand. Anläßlich des Maifeiertags würde im Kloster ein Fest zu Ehren der wirtschaftlichen Fortschritte des Bezirks stattfinden. Die Bürger wurden zur Teilnahme aufgefordert. Unter der Ankündigung hing ein Blatt mit numerierten Linien, in das sich die Familien oder Produktionseinheiten eintragen sollten, um die Früchte ihrer Arbeit zu präsentieren. Das Datum lag zehn Tage zurück, und es gab nur einen einzigen Eintrag: Irgendein Witzbold hatte dort »Lhalung Pelgyi Dorje« hingekritzelt. Das war der Name eines Tibeters, der vor mehr als tausend Jahren einen König getötet hatte, nachdem dieser auf dermaßen brutale Weise gegen die Buddhisten vorgegangen war, wie es sich bis zur Ankunft der Kommunisten nicht mehr wiederholt hatte. Dieser Held würde nach Norbu kommen, stand dort, und zu Ehren des Vorsitzenden einen schimmligen Kloß mitbringen. Ansonsten hatte sich niemand für die Maifeier angemeldet. Shan musterte die müden Tibeter, die draußen vor dem Tor saßen. Es schien, als würde ein Teil der ortsansässigen Bevölkerung sich über das gompa lustig machen wollen, während ein anderer Teil es fürchtete.
    »Wenn wir jetzt aufbrechen, können wir die Schafe noch vor Einbruch der Dunkelheit einholen«, schlug Nyma leise vor, als läge ihr plötzlich nicht mehr viel daran, den Segen der Lamas zu empfangen. Doch noch bevor jemand etwas darauf erwidern konnte, kam ein lächelnder Mönch mittleren Alters durch das Tor und breitete in seiner eleganten goldgesäumten Robe grüßend die Arme aus. Dicht auf dem Fuß folgten ihm zwei junge Mönche, die fast noch Kinder waren.
    Shan erstarrte vor Schreck und warf Nyma einen besorgten Blick zu. Er kannte dieses Gesicht mit der langen Hakennase. Der Mann war Khodrak, nach eigenem Bekunden der Abt des Klosters.
    »Vergeben Sie uns«, sagte Khodrak. »Wir waren so froh über die Rückkehr unseres Padme, daß wir Sie vernachlässigt haben.«
    Shan sah über die Schulter des Mannes und durch das Tor. Über der verzierten Eingangstür des zentralen Gebäudes hing ein kleines Banner in akkurater chinesischer Schrift: Klarheit und Wohlstand , lautete die Botschaft. »Die Retter unseres Padme sind in Norbu gompa herzlich willkommen«, rief Khodrak huldvoll und wies mit einladender Geste auf das Tor.
    Als er und seine aufgeregten jungen Begleiter die Gäste über den ordentlich geharkten Innenhof führten, wurde deutlich, daß die Restaurierungsbemühungen sich auf gewisse Teile des gompa beschränkt hatten. Bei den drei Gebäuden im Zentrum schien es sich um stabile Neubauten zu handeln, aber parallel zu den Außenmauern standen auf beiden Seiten lange eingeschossige Häuser aus Holz und gepreßter

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