Das tibetische Orakel
wir könnten uns dennoch glücklich schätzen. In anderen gompas müssen die Mönche sich angeblich vom Dalai Lama lossagen, oder man steckt sie in ein chinesisches Gefängnis.«
Lhandro trat vor. Er wirkte sehr besorgt. »Du mußt in dein Kloster zurückkehren. Nach dem, was Padme zugestoßen ist, wird man einen Suchtrupp nach dir aussenden.«
»Seit einem Monat habe ich nur noch jede zweite Nacht geschlafen. In den anderen Nächten bin ich hinaus zu diesem Dunghaufen gegangen und habe gebetet.«
Er sah Shan an.
Gyalo sagte, daß er sich in einer spirituellen Krise befunden hatte, erkannte Shan. Er sagte, daß er versucht hatte, eine wichtige Entscheidung zu treffen.
»Als ich damals nach Norbu aufgebrochen bin, hat mein Onkel mir eingeschärft, ich solle den ranghohen Lamas besonders gut zuhören, denn es könne sich bei ihnen um Verkörperungen der wahren Lehre Buddhas handeln. Aber es gab dort keinen Buddha, sondern nur Komiteemitglieder. Sie werden von der Regierung bezahlt.«
Gyalo runzelte die Stirn. »Jampa und ich glauben nicht, daß man gleichzeitig Lama sein und sich von Peking bezahlen lassen kann. Das, was dort Buddha am nächsten kam, befand sich genau hier.«
Er legte dem Yak beide Hände auf den Kopf. Der Blick, den der Mönch und das Tier austauschten, schien voll tiefer Bedeutung zu sein, und jedermann verfolgte den Vorgang völlig reglos. Der Yak sah alle nacheinander an und atmete dann tief durch. Es klang wie ein Seufzen.
Unter den Dorfbewohnern kam ein Raunen auf, und einige von ihnen nickten ernst, als wüßten sie über Buddha-Yaks Bescheid.
»Jampa war auch an jenem Ort«, sagte Gyalo, als fiele es ihm schwer, den Namen des Klosters auszusprechen. »Das Komitee wollte ihn loswerden, sobald er all den Dung fortgeschafft hätte. Für ihn stand schon seit mehreren Monaten fest, daß er aufbrechen würde. Und nun«, schloß der Mönch mit zaghaftem Lächeln, »nun haben die immer noch den ganzen Dung, aber sie haben uns nicht mehr.«
»Wir können dir andere Kleidung geben«, sagte Lhandro und bückte sich nach der Ladung eines der Packpferde.
»Nein«, entgegnete Gyalo sogleich und sprach dann langsam und besonnen weiter. »Nein. Ich bin ein Mönch. Ich bin bloß ein Mönch unter Lehrern.«
Er und auch alle um ihn herum wußten, was diese Worte bedeuteten. Er würde ein Mönch ohne Lizenz sein, ein illegaler Mönch. Falls die Kriecher ihn erwischten, konnte er weder auf Verständnis noch Milde hoffen, sondern würde für viele Jahre in einem lao-gai -Lager verschwinden. Und nach der Freilassung würde es ihm nie mehr gestattet sein, in einem gompa zu dienen.
Nyma trat vor. Ihre Gebetskette hielt sie in der Hand. »Wir sollten einige Mantras beten«, schlug sie vor. Gyalo nickte zufrieden. Lokesh gesellte sich mit seiner mala zu ihnen, gefolgt von zwei der Dorfbewohner.
Der Mönch ging mit Nyma zu einem großen flachen Felsen in der Nähe des Feuers. Dort hielt er inne und ließ den Blick über die Anwesenden schweifen. »Ich heiße Gyalo«, sagte er. »Das dort ist Jampa. Und ihr Name lautet Chemi«, fügte er hinzu und wies den Pfad hinunter. »Sie wollte eine Weile sitzen bleiben und die Wolken beobachten.«
Shan sah eine Frau aus dem Schatten auftauchen. Neben ihr lief schwanzwedelnd einer der Mastiffs.
»Sie war bei der Ruine des gompa und hat geholfen, die Asche zu durchsuchen«, erklärte Gyalo. »Aber sie sagte, sie sei eigentlich auf dem Heimweg und wolle ebenfalls nach Norden.«
Mit scheuem Lächeln kam die Frau zum Feuer. Nyma reichte ihr eine Schale Tee. Chemi setzte sich vor einen Felsen und erläuterte Lhandro, daß sie zu ihrer Familie in den Hügeln oberhalb des Tals von Yapchi unterwegs sei. Nyma und Lhandro hießen sie herzlich willkommen und bestätigten Shan, daß sie die Familie der Frau kannten. Die Leute wohnten in einem kleinen Weiler aus fünf Häusern, der nur sechs Kilometer von Nymas Heimatdorf entfernt lag. Lokesh nahm neben Chemi Platz und sprach leise mit ihr, als würde er sie kennen. Dann wurde es plötzlich windig, und sie setzte den Hut auf, den sie bei sich getragen hatte.
Shan starrte sie ungläubig an. Dieser Hut hatte einst ihm gehört. Chemi war die Frau, die Dremu am Wegesrand entdeckt hatte, krank und zu schwach, um sich auf den Beinen zu halten. Er kniete sich neben Lokesh. »Dieses tonde war ziemlich gut, glaube ich«, sagte Chemi zu dem alten Tibeter. Shan erinnerte sich an das Fossil, das Lokesh ihr gegeben hatte. Er sah nun, daß
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