Das tibetische Orakel
der Mann, nach dem diese Leute zu suchen glauben«, fügte Tenzin hinzu. Er klang zutiefst bekümmert.
Shan musterte sein gepeinigtes Gesicht und bemühte sich, den Sinn dieser merkwürdigen Worte zu ergründen. »Warum sucht man nach dir? Hast du jemanden getötet?«
Tenzin blickte zu dem Fluß, der geblutet hatte. »Zuerst habe ich etwas getan, wofür ich mich selbst hasse«, sagte er nach geraumer Weile, »dann habe ich etwas getan, wofür die anderen mich hassen.«
»In Lhasa?« fragte Shan. »Bist du in Lhasa gewesen?«
»Dieser Abt, der vermißt wird. Ich war da.«
»Der Abt von Sangchi? Hast du ihn nach deiner Flucht aus dem Gefängnis gesehen? War Drakte bei ihm?«
Aber Tenzin hielt sich die Fingerspitzen an die Lippen und sagte nichts mehr. Er wirkte verwirrt, als wäre ihm gerade erst klargeworden, daß er gesprochen hatte.
Plötzlich fiel Shan jene schreckliche Nacht wieder ein - und der Klang der Stimmen aus der Totenhütte. »Du warst dort bei Gendun und Drakte«, sagte er. »Ich habe deine Stimme gehört. Du hast mit Gendun den Bardo-Ritus rezitiert.«
Es war keine krächzende Stimme, keine Kehlkopfverletzung.
Tenzin seufzte nur und schaute traurig drein.
Es war später Nachmittag, als sie die ersten Schafe sahen, die weit vor ihnen im Schutz mehrerer großer Felsblöcke das spärliche Gras abweideten. Alle trugen nach wie vor die bunten Packtaschen. Ein hoher rhythmischer Ton ließ Lhandro innehalten und eine Hand heben. Nach einem Moment verflog seine Anspannung. Er führte die Gruppe um eine Wegbiegung und blieb erneut stehen. Etwa sechzig Meter vor ihnen brannte im Windschatten einer riesigen Felsplatte, die irgendwann von der dahinter aufragenden Klippe abgebrochen war, ein kleines Lagerfeuer. Dicht daneben standen drei der Dörfler aus Yapchi. Auf halber Strecke saß Anya mit dem Rücken zum Pfad und sang einer Handvoll Schafe etwas vor. Die Tiere schienen ihr aufmerksam zu lauschen, als wollten sie jeden Augenblick in das Lied einstimmen.
»Sie spricht mit ihnen«, stellte Nyma ehrfürchtig fest. Die Reisenden verharrten still, hörten zu und wagten nicht, sich zu rühren - vielleicht weil sie unter demselben Bann wie die Schafe standen. Dann bemerkte einer der Dorfbewohner die Neuankömmlinge und stieß einen lauten Ruf aus. Anya drehte sich um, und der Zauber war dahin.
Die Gefährten wurden mit Fragen überschüttet, und Shan und Lokesh ließen Lhandro und Nyma alle Antworten geben. Ja, Padme hatte sich erholt und war bei ihrem Aufbruch bereits wieder auf den Beinen gewesen. Ja, er wohnte in einem wiederaufgebauten gompa , dem alten Zweiten Haus. Ja, die Lamas hatten ihnen ihren Segen erteilt. Ja, es gab dort sogar Novizen, die ganz wie früher zu Mönchen ausgebildet wurden. Die Dörfler waren zufrieden, und wenngleich Lhandro sich hilfesuchend nach Shan und Nyma umsah, ließ niemand freiwillig ein Wort darüber verlauten, was sonst noch in Norbu geschehen war. Der rongpa hockte sich vor einen Stapel Decken, auf den jemand den Beutel mit dem roten Kreis gelegt hatte, den Beutel, in dem sich das Auge befand. Schweigend strich Lhandro darüber, als müsse der chenyi-Stein irgendwie getröstet werden.
Kurz vor Sonnenuntergang bellte einer der Hunde. Zwei der Männer aus Yapchi rannten zwischen die Felsen oberhalb des Pfades. Lhandro sprang auf einen Block, von dem aus er die Bergflanke überblicken konnte, und winkte gleich darauf Shan zu sich.
Ein Mann und ein Yak kamen die Steigung hinauf und durchquerten soeben einen von der Sonne beschienenen Fleck. Der Mann trug ein Mönchsgewand.
»Man wird dich heute abend in Norbu zurückerwarten«, merkte Shan vorsichtig an, als Gyalo das große breitschultrige Tier zum Feuer führte.
»Es ist schon ein komischer Ort, dieses gompa« , sagte der Mönch nachdenklich. »Das Komitee schreibt vor, daß nur fünfunddreißig Mönche dort sein dürfen, obwohl Platz für dreimal so viele wäre. Der Vorsitzende hat den Unterricht über die Lama-Heiler von Rapjung untersagt und läßt uns statt dessen lernen, wie man das sozialistische Gedankengut mit den Lehren Buddhas verknüpft.«
Während er sprach, kraulte er den Rücken des schwarzen Yaks. »Wir müssen ein Papier unterzeichnen, mit dem wir uns verpflichten, die Regierung nicht zu kritisieren und bedingungslos die Autorität des Büros für Religiöse Angelegenheiten anzuerkennen. Wer nicht unterschreibt, darf kein Mönch mehr sein.«
Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Manche behaupten,
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