Das tibetische Orakel
Stimme war ernst und entschlossen, beinahe dringlich. »Sie brüten derzeit Nachwuchs aus. Falls alles gutgeht, werden auch die Jungtiere sich niemals um den Rest der Welt zu kümmern brauchen.«
Der Yak wandte seinen riesigen Kopf in Richtung der Berge, als hätte er Lokeshs Worte verstanden. Er schien nach den Vögeln Ausschau zu halten. Gyalo kraulte den Haarbüschel zwischen den Ohren des Tiers und folgte seinem Blick. Dann wandte er sich mit sorgenvollem Lächeln um. »Geht mit Buddha.«
Nach einer weiteren Stunde erreichten sie die Abzweigung, und Lhandro führte sie einen steilen Pfad hinauf, der mit den frischen Spuren der Schafherde übersät war. Die langgestreckte Ebene der Blumen fiel hinter ihnen zurück, und im Norden und Osten bot sich ihren Blicken eine neue Landschaft dar. Sie rasteten auf einem flachen Felsen und aßen kalte Klöße. Von hier aus konnten sie meilenweit eine zerklüftete Gegend aus braungrauem Fels und Geröll überschauen, vielfach durchzogen von dünnen Streifen aus Buschwerk, die den Verlauf kleiner Flüsse markierten und sich ostwärts zu einem fernen Flickwerk aus winzigen Vierecken schlängelten, grünen Feldern voll sprießender Gerste.
Lokesh wies auf einen schmalen, hohen Wasserfall, der in mehr als drei Kilometern Entfernung an einer senkrechten Felswand in eine Schlucht hinabstürzte. Er versuchte, den Lauf des daraus gespeisten Flusses nachzuvollziehen, als Lhandro erschrocken aufkeuchte.
»Tara schütze uns!« klagte der rongpa und deutete auf eine Stelle weiter unten am Wasserlauf, wo dieser aus der Schlucht zum Vorschein kam. »Die Götter sind wahrhaft erzürnt!«
Er wurde bleich und umklammerte sein gau.
Verwirrt folgte Shan der Richtung von Lhandros ausgestrecktem Arm. Dann stöhnten auch Lokesh und Nyma auf. Auf einem langgezogenen Teilstück des Flusses war das Wasser leuchtend rot. Shan überschlug die ungefähre Größe der Stelle. Sie war fünfzig oder sechzig Meter lang und erstreckte sich über die gesamte Breite des Flußlaufs.
Nyma drehte sich verängstigt zu Shan um. »Was ist das?«
Doch er hatte keine Erklärung dafür. »Im Meer gibt es Algenarten, die das Wasser bisweilen rot erscheinen lassen«, lautete seine zögerliche Vermutung.
Lokesh und Lhandro nickten. Nicht etwa, weil sie hier an die Möglichkeit von Algen glaubten, wußte Shan, sondern weil er eine natürliche Ursache angeboten hatte.
Schweigend beobachteten sie den roten Fleck, bis er hinter einer Flußbiegung verschwand.
Lokesh hob abermals den Arm und zeichnete mit ausgestrecktem Finger den Verlauf des Flusses vom Wasserfall bis zu der Stelle nach, an der er sich den Blicken entzog. Mit beklommener Miene wandte der alte Tibeter sich um und folgte dem besorgten Lhandro, der im Laufschritt den Pfad hinaufeilte. Shan wußte, daß der rongpa den Fleck als Vorboten eines schrecklichen Ereignisses begriffen hatte.
Nyma blieb neben Shan stehen und starrte gequält auf den Fluß. »Die Berge bluten.«
Sie wandte sich ab und folgte Lokesh. Shan ging einen Schritt auf den Pfad zu, wo Tenzin neben der Abbruchkante kniete. Der Tibeter hatte einen kleinen Steinhaufen aufgeschichtet und goß nun Wasser auf einen Fleck Erde. Dann rührte er die kleine Pfütze um und schrieb mit dem Schlamm einige Worte auf die Felsen neben dem Haufen. Om amtra kundali hana hana hum phat. Es war ein machtvolles Mantra, eine nachdrückliche Bitte um Reinigung.
Tenzin betrachtete die Worte und ließ den Blick dann über die niedrigen Hügel im Osten schweifen. Er schien vergessen zu haben, daß Shan ganz in der Nähe stand.
»Es war ein Fehler, dieses gompa aufzusuchen«, sagte Shan leise. Ihm kam der Gedanke, daß Khodrak und die Schreihälse womöglich mehr über Tenzin wußten als er, und ihm war klar, daß der stumme Tibeter ihm nicht antworten würde.
Doch auf einmal atmete Tenzin vernehmlich ein. »Wenn die Seele fast erstickt«, sagte er mit tiefer, melodischer Stimme, »und erst mit dem letzten Atemzug wieder zum Leben erwacht, wird es nie wieder dieselbe Seele sein.«
Seine Augen blieben dabei auf die fernen Hügel gerichtet, und er sprach dermaßen schnell, daß Shan im ersten Moment an eine Sinnestäuschung glaubte. Der Tibeter wandte den Kopf. »Dein Lama Gendun hat behauptet, manchmal würde jemand im alten Körper und während ein und derselben Lebensspanne wiedergeboren. Er sagte, du wüßtest darüber Bescheid.«
Shan starrte ihn an. Tenzin war eine neue Zunge gewachsen.
»Ich bin nicht
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