Das tibetische Orakel
Einsiedelei kamen, um hier im geheimen zu meditieren. Möglicherweise kannte auch einer der dropkas aus dem Lager die Zeremonie. Shan zog sich zurück, um nicht zu stören. Aus irgendeinem Grund spürte er, daß er Draktes Leben erschwert hatte. Nun wollte er den Mann nicht auch noch im Tode behelligen.
Bei Tagesanbruch bat Shan die dropka , ihn zu dem Berggrat zu bringen und ihm zu zeigen, wo sie Drakte letzte Nacht zum erstenmal gesehen hatte. Schweigend folgte er ihr im grauen Licht des Morgens den steilen Serpentinenpfad hinauf, der die Einsiedelei mit der Außenwelt verband. Auf dem Kamm ließ die Frau sich bäuchlings nieder und schob sich behutsam voran, um das Tal zu überblicken, als rechne sie mit einem Hinterhalt. Nach einer Weile richtete sie sich wieder auf und winkte Shan heran, ohne jedoch auf ihn zu warten. Statt dessen folgte sie der Kammlinie im Laufschritt zweihundert Meter bis zum höchstgelegenen Punkt, wo man einen Steinhaufen aufge schichtet hatte. Als Shan sie einholte, war sie eifrig damit beschäftigt, weitere Steine hinzuzufügen. Der untere Teil des Haufens war sehr alt und dick mit graugrüner Flechte bewachsen, doch während der letzten Wochen hatten die Hirten ihn täglich um mehrere Steine erweitert und auf knapp zwei Meter Höhe gebracht, um die Aufmerksamkeit der hiesigen Gottheiten zu erregen. Nun sammelte die Frau hastig und mit sorgenschwerer Miene zusätzliches Material ein. Wenn die dropkas in der Einsiedelei schon keine Waffen tragen durften, konnten sie auf diese Weise wenigstens den Beistand der Götter erflehen.
Im Gehen hob Shan einen großen Stein auf und legte ihn dicht unter der Spitze des Haufens ab. Das ledrige Gesicht der Frau verzog sich zu einem traurigen Lächeln. Schweigend schob sie das rote geflochtene Stirnband zurück, das sie stets trug, und holte den nächsten Stein.
»Ich muß immerzu daran denken, daß ich schuld bin«, sagte sie schließlich und schaute gehetzt ins Tal. »Vielleicht habe ich dieses Wesen, das ihn getötet hat, herbeigerufen. Als ich Drakte sah, habe ich sofort das Signal gegeben, noch bevor ich ihn erkannt hatte.«
Sie starrte das Horn an, das auf einem Stück Stoff in der Nähe des Steinhaufens lag. »Womöglich hat mein dungchen es irgendwie angelockt.«
»Nein«, widersprach Shan und bemühte sich, überzeugter zu klingen, als er eigentlich war. »Dieses Wesen befand sich bereits auf der Spur von Drakte und dem Stein. Drakte ist hergekommen, um uns zu warnen.«
Doch der purba hatte auch vorgehabt, ihnen bei der Reise mit dem Steinauge behilflich zu sein. Die letzten Worte des Mannes verfolgten Shan ebensosehr wie der Anblick des Bluts auf dem Mandala. Hatte Drakte sich bei Shan für irgendeinen Fehler entschuldigen wollen? Oder dafür, daß die Reise nun unmöglich sein würde? Vielleicht für beides, weil er den Dämon auf sie losgelassen hatte.
»Und er ist dafür gestorben«, sagte die Hirtin. Sie verzog gequält das Gesicht und hob eine Hand an die Brust, als sei etwas in ihrem Innern zerrissen. »Ich habe Drakte gekannt. Er wurde in dieser Gegend als Sohn eines Herdenbesitzers geboren. Seine Mutter war so stolz, als er Mönch wurde. Damals hat er beim Wiederaufbau der Einsiedelei geholfen. Er wußte immer genau, aus welchen Familien jemand in Haft saß, und sorgte dafür, daß den Angehörigen geholfen wurde. Drakte hat mir sogar Nachrichten von meinem Sohn überbracht, der in der Nähe von Lhasa eingesperrt ist, weil er vor Jahren mal einem Mönch Zuflucht gewährt hat.«
Sie berührte ihr Stirnband. »Das hat er mir auch von meinem Sohn gebracht. Es wurde aus dem Gewand eines Mönchs geflochten, der im Gefängnis gestorben ist.«
Die Frau blickte in das Tal hinaus, über dem die ersten Strahlen der Morgensonne leuchteten. »Aber das Wesen, vor dem er uns warnen wollte, hat uns nichts getan«, stellte sie verwirrt fest. »Es hat ihn einfach nur ermordet und ist verschwunden. Es hätte den Stein nehmen können, doch das hat es nicht. Ich habe Drakte sagen gehört, es würde für den Stein töten. Wir haben gesehen, wie es statt dessen ihn getötet hat.«
Sie sah Shan ins Gesicht. »Es wartet bestimmt irgendwo in den Bergen, um zurückzukehren. Jetzt, da es Bescheid weiß. Tötet es bloß nachts?«
Shan schüttelte bekümmert den Kopf. Dann wies er auf den Ausgang des Tals. »Wie konntest du Drakte im Dunkeln sehen? Du hast doch Signal gegeben, weil du ihn gesehen hast. War er allein?«
»Wir haben fast Halbmond. Ich
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