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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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große Tiefen wahrnahm, einen brausenden Wind und das Aufblitzen leuchtender Farben. Er war auf den Verlust seines Körpers nicht vorbereitet gewesen und würde verwirrt sein.
    »Rinpoche«, wandte Nyma sich wie betäubt an Gendun. »Das Mandala für...«:
    Der Lama hielt kurz inne und ließ den Blick über das zerstörte Mandala, das gezackte Auge und schließlich Tenzin schweifen, der ebenfalls an Draktes Seite geeilt war. Dann sah Gendun wieder den Toten an. »Hierhin hat der Mitfühlende Buddha uns gebracht«, fuhr er mit der Zeremonie fort. »Du wirst diesen Körper aus Fleisch und Blut verlassen und wissen, daß du in Frieden ruhst«, intonierte der Lama aus dem Gedächtnis und mit fast geschlossenen Augen.
    Die dropkas brachten eine Decke und hoben den Leichnam darauf. Dann trugen Lokesh und Tenzin ihn langsam in die Nachbarhütte, während Gendun neben ihnen ging und weiterhin den Todesritus ab hielt. Dort setzten sie Drakte in der traditionellen Haltung aufrecht an die Wand, und Nyma entzündete einige Butterlampen.
    Shan nahm für einen Moment neben dem Lama Platz. Das Herz schlug ihm immer noch bis zum Hals. Er versuchte verzweifelt zu begreifen, was sich da vor seinen Augen abgespielt hatte. Er stand auf, ging zur Tür und blickte hinaus. Der golok und die beiden Nomaden liefen nervös am Rand des kleinen Lagers auf und ab, und die dropka rief etwas in Richtung des fernen Zeltes, um die Hirten zu alarmieren. Shan schaute zurück in die Hütte. In dem trüben Licht sah es so aus, als würden Gendun und Drakte ein Gespräch führen.
    In der lhakang fing Shopo inzwischen mit einer zweiten Zeremonie bei dem Mandala an. Nyma und Lokesh ließen sich zu seinen Seiten nieder, und der Lama wandte sich nacheinander an jedes der einzelnen Bilder des Sandgemäldes und bedachte es mit einem leisen Gebet, das wie eine Entschuldigung klang. Shan gesellte sich für eine knappe halbe Stunde zu ihnen. Als dann seine Verwirrung erneut einer großen Furcht wich, kehrte er zur Tür der zweiten Hütte zurück, wo Gendun beständig zu Drakte sprach. Shan starrte den Toten an und erinnerte sich an ihr erstes Zusammentreffen im Tal von Lhadrung, wo der Tibeter Speisen für die Familien der Häftlinge gesammelt hatte. Drakte war einst ein Mönch gewesen, bis man ihn aus seinem gompa , seinem Kloster, vertrieb, weil Pekings Büro für Religiöse Angelegenheiten die Zahl der aktiven Mönche streng limitierte. In einem anderen Zeitalter hätte Drakte sein ganzes Leben in der kastanienbraunen Robe verbracht und die Wege des Mitleids erforscht und gelehrt. Doch die Beherrscher der Welt, in der Shan und Drakte lebten, hatten dem jungen Tibeter verboten, in einem gompa zu sitzen und an der Weisheit der Lamas teilzuhaben.
    Shan hatte irrtümlich geglaubt, sie könnten in ihrer verborgenen Einsiedelei sicher sein, hatte sich fälschlich tief in das Ritual verstricken lassen, obwohl doch in unmittelbarer Nähe große Gefahr drohte. Vielleicht hätte er nicht einmal in Gedanken zulassen dürfen, daß das Mandala und die damit verbundene Hoffnung ihn so sehr beschäftigten, daß kaum Platz für etwas anderes blieb. Schon oft hatte Shan die Lamas zu Männern wie Drakte sagen gehört, daß vordringlich Mitgefühl die Waffe ihres Kampfes sein müsse. Die Antwort fiel fast immer gleich aus: Falls sie versuchten, allein mit Mitgefühl für ihre Sache einzutreten, würden letztendlich alle Mitfühlenden tot sein.
    Er ertappte sich dabei, daß er benommen durch die Landschaft wanderte, bis er schließlich seinen Meditationsort bei den Felsen erreichte. Der Mond verschwand hinter einer Wolke, und vor Shans innerem Auge spielte sich immer wieder die gleiche schreckliche Szene ab: Draktes Blut durchtränkte das Mandala, während der purba ihn hilflos anstarrte. Ruhelos musterte Shan den schwach erhellten Horizont, kehrte dann zu der Totenhütte zurück und wollte eintreten, aber die Tür war geschlossen. Als er näher kam, hörte er wieder den BardoRitus, allerdings aus zwei Mündern, nicht nur aus einem. Die zweite Stimme gehörte weder Nyma noch Lokesh oder Shopo, die allesamt in der lhakang saßen. Jemand anders, ein Fremder, hatte sich dem Lama angeschlossen. Die zweite Stimme klang beinahe wie ein Echo von Genduns sanfter, erfahren vorgetragener Litanei, aber tiefer - es war die Stimme eines Mannes, der sich auf die alten Überlieferungen verstand, die Stimme eines Lehrers wie Gendun. Shopo hatte erzählt, daß bisweilen andere Lamas in die

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