Das tibetische Orakel
Blicken, aber als Winslow anfing, eine Runde durch das Lager zu drehen, zog er sogleich die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Es war unmöglich, den hochgewachsenen, hellhäutigen Ausländer zu übersehen. Er verharrte bei den Kranken, sprach leise mit ihnen, griff dann in seinen Rucksack und holte alles Eßbare heraus. Eine Tüte Rosinen, ein Beutel Nüsse und einige Bonbons. Außer Anya gab es nur vier Kinder im Lager, aber die scharten sich alle um den Amerikaner und teilten sich fröhlich die süßen Leckereien. Anya sah mit seltsam distanzierter Miene dabei zu, als habe sie vergessen, was es bedeutete, ein Kind zu sein.
Der Mann neben Chemi stöhnte, schloß die Augen und schien das Bewußtsein zu verlieren. Sie zog ihren Mantel aus, rollte ihn zu einem Kissen zusammen und schob ihn unter den Kopf des Mannes.
»Das ist mein Onkel Dzopa«, flüsterte sie. »Die letzten zehn Jahre hat er in Indien gelebt.«
Shan sah erst den Mann und dann verwirrt Chemi an. »Warum ist er ausgerechnet jetzt zurückgekehrt?«
»Ich kann nicht verstehen, was er sagt«, erklärte sie. Mit Tränen in den Augen nickte sie in Richtung einer Frau, die an einem nahen Feuer saß und mit leerem, traurigem Blick Tee butterte. »Meine Cousine erzählt, daß er die anderen zur Aufgabe überreden wollte, als der Panzer zu schießen anfing. Es gab eine Explosion, und irgendwas hat ihn am Kopf getroffen. Erst einen Tag vorher war er zurückgekommen. Als er von meiner Krankheit hörte, wollte er gleich nach mir suchen. Wir sind seine einzigen Angehörigen. Als junger Mann hat er in einem gompa gelebt und daher nie geheiratet.«
Der große Tibeter schien Ende Fünfzig zu sein. Seine Arme waren wie Baumstämme, sein Nacken der eines Stiers. »Und jetzt ist er Bauer?« fragte Shan.
Chemi nickte. »Einmal kam ein Brief von ihm. Er hatte sich in Dharamsala niedergelassen.«
Das war der Sitz der tibetischen Exilregierung.
»Was meinst du, weshalb ist er zurückgekehrt?«
»In seinen Reden sagt der Dalai Lama manchmal, der größte Beitrag, den ein Flüchtling aus Tibet leisten könne, sei die Rückkehr. Denn jene, die nach Indien gegangen seien, hätten dadurch Glauben und Stärke bewiesen, und genau das sei nötig, um Tibet am Leben zu erhalten.«
Shan musterte den übel zugerichteten Mann ein weiteres Mal. Seine Verletzungen schienen ernst zu sein. Die Finger von Dzopas linker Hand zitterten, was auf eine mögliche Schädigung der Nerven hindeutete. »Hat er etwas aus Indien mitgebracht? Vielleicht eine Botschaft? Wollte er anderen zur Flucht nach Indien verhelfen?«
Aber als Shan den Kopf hob, sah er, daß Chemi sich bereits abgewandt hatte und in den hinteren Bereich der kleinen Schlucht ging. Dort fand er sie bei Lokesh und Anya wieder, die mit Teeschalen hinter einem Kreis aus Menschen saßen, welche ein Mantra rezitierten.
»Sie werden erst damit aufhören, wenn diese Leute weggegangen sind«, erklärte Lokesh. Jenseits des Kreises lag ein flacher Stein mit mehreren hölzernen Opferschalen und einer verrußten Metallscheibe, auf der man Weihrauch verbrannt hatte. Shan mußte an Lhandros Erzählung denken: Anya und Nyma hatten in den Felsen hinter dem Dorf eine Kapelle errichtet.
»Meinst du die Bulldozer in Chemis Dorf?« fragte Shan.
»Nein«, entgegnete Anya aufgeregt. »Alle Chinesen und Ausländer müssen unser Tal verlassen. Die Menschen hier haben bei Tara geschworen, Tag und Nacht durchzuhalten. Eine Mantra-Kette, so lange es eben dauern mag. Wir alle werden uns dabei abwechseln, wenn es geht.«
Er sah das entschlossene Funkeln in ihrem Blick. Zu den Häftlingen in Shans Arbeitslager hatte ein alter khampa-Krieger gehört, der wegen einiger Überfälle auf Soldaten eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßen mußte und die Mönche dafür bewunderte, daß sie allein durch Gebete genügend Kraft fanden, um sogar Schlägen oder Elektroschocks standzuhalten. »Ich habe immer bloß mit Waffen herumgefuchtelt«, hatte der khampa häufig und stets voller Ehrfurcht für die heiligen Männer gesagt. »Verglichen mit den Lamas ist das gar nichts.«
Am liebsten hätte Shan sich nun zu den Leuten im Kreis gesellt. Womöglich blieb ihnen allen gar nichts anderes mehr übrig als zu beten. »Warum wollte Chemis Onkel die anderen zur Aufgabe überreden, und wieso gerade jetzt?« fragte er das Mädchen.
»Weil er vermutlich jemanden kannte, der in der Nähe anderer chinesischer Entwicklungsprojekte gewohnt hatte. Er fürchtete wohl, die
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