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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Firma würde sie wegbringen.«
    »Wegbringen?«
    »Um sie für sich arbeiten zu lassen. Oder um die Familien an einen merkwürdigen Ort zu verfrachten. Unsere Leute erzählen, daß die Firma unser Dorf seit dem Aufbruch der Karawane immer wieder drangsaliert hat, um jedermann zu vertreiben. Alle jungen Männer aus Yapchi wurden fortgeschleppt, um Bäume zu fällen. Sie müssen dort im Lager bleiben und werden nachts in diese Metallkästen eingeschlossen. Die anderen trauen sich nicht mal, nach den Männern zu fragen, weil sie fürchten, dann ebenfalls eingesperrt zu werden.«
    Anya sprach mit einer Wut, die Shan noch nie an ihr wahrgenommen hatte. Doch als sie seinen Blick erwiderte, sah sie erst verwirrt und dann verängstigt aus. »Eingeschlossen in einen Metallkasten«, wiederholte sie. Dann wandte sie sich ab und setzte sich in den Kreis.
    Etwa zehn Meter davon entfernt saß Tenzin, daneben die beiden Tibeter, die ihn ins Lager gebracht hatten, und ein älterer Mann. Die Gesichter der drei Fremden waren von tiefem Zorn gezeichnet. Der jüngste der Männer drehte sich plötzlich um, stand auf und trat Shan wie ein Wachposten einen Schritt entgegen. Diese Tibeter würden den Chinesen nicht nur mit Mantras Widerstand leisten. Shan blickte an dem Wächter vorbei zu Tenzin, der vorgebeugt dasaß und aufmerksam dem älteren Mann lauschte. Neben ihnen lagen mehrere Ausrüstungsgegenstände: geflochtene Lederseile, Wasserflaschen, ein Kompaß an einem Stück Schnur, ein Klappspaten und Nylonschlafsäcke.
    Auf einmal erschallte aus dem vorderen Teil des Lagers ein qualvolles Stöhnen. Shan und die purbas liefen sofort los und sahen, daß Chemi verzweifelt versuchte, ihren Onkel zurückzuhalten. Er hatte sich aufgesetzt, hielt nun den Holzgriff eines Butterfasses umklammert und hämmerte auf einen kleinen Baumstumpf ein, wobei der Griff in kleine Splitter zerbarst. Shan wollte ihn am Arm festhalten, doch der Mann stieß ihn mühelos beiseite. Dann legte Chemi ihm beide Hände auf die Wangen. »Onkel!« rief sie. »Du mußt damit aufhören!«
    Dzopa hielt inne und sah sie an, wenngleich sein Blick keinen Halt zu finden schien. »Haltet sie auf!« stieß er wiederum unter markerschütterndem Stöhnen hervor. »Sie verbrennen all die Lamas!«
    Dann sank er bewußtlos zusammen, ohne die Überreste des Griffs loszulassen.
    Shan saß noch immer am Boden und starrte Dzopa beunruhigt an.
    »Sein Kopf«, flüsterte Chemi ihm zu. Sie griff nach einem Lappen, um ihrem Onkel die Stirn abzutupfen, und hielt mitten in der Bewegung inne, als sie die anderen Leute sah. Alle Blicke hatten sich furchtsam auf den Bewußtlosen gerichtet. Manche der Umstehenden zogen ihre Gebetsketten hervor und stimmten Mantras an.
    Anya willigte ein, als Shan sie bat, ihn in ihr Dorf zu führen, obwohl die älteren Frauen protestierten. Er müsse das Tal verstehen, beteuerte das Mädchen, denn es sei dem Auge beschieden, zu ihm zurückzukehren, und dann wäre schnelles Handeln vonnöten. Eine der Frauen, eine grobknochige, plump wirkende Alte mit langem Filzrock und roter Schürze nickte entschlossen. »Falls diese Chinesen auf Öl stoßen, werden sie niemals von hier verschwinden«, schalt sie die anderen. Shan nahm sein Fernglas und folgte Anya und der Frau zurück ins Dorf.
    Die Gottheit habe auf einem kleinen Hügel in der Nähe der Mitte des Tals gelebt, erklärte die Alte. Ein Lama habe sie dort vor fast dreihundert Jahren in einem Felsen entdeckt, nur wenige hundert Meter vom Dorf entfernt, und die Dorfbewohner hätten die Stelle daraufhin mit einer mani-Mauer umgeben. Jedes Jahr seien dann Lamas aus dem berühmten Rapjung gompa gekommen und hätten den Felsen und seine Beschützer gesegnet.
    Ein brauner Hund kam aus dem ersten Haus gelaufen, aber sein lautes Bellen verwandelte sich schnell in aufgeregtes Winseln, als er Anya erkannte. Im Eingang des zweiten Gebäudes erschien ein fast zahnloser Mann mit rußgeschwärztem Gesicht und begrüßte das Mädchen herzlich. Anya versprach ihm, daß am nächsten Tag frisches Lamtso-Salz eintreffen würde. Hinter einer Mauer aus Erde, die das dritte Haus umgab, schaute ein Mann mittleren Alters hervor. Er hatte einen verschlissenen Hut auf dem Kopf und erkundigte sich nach Lhandro. Shan folgte dem breiten Pfad, der als einzige Straße des Dorfes diente, während Anya nacheinander zu den wenigen Einwohnern lief, die sich zeigten. Ein Haus, das letzte im Ort, war aus festen Baumstämmen errichtet und besaß

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