Das tibetische Orakel
einen Heuboden. Es war ein altes, elegantes Bauwerk und ließ an die Tradition von Kham denken, jener östlichen Region Tibets, die einst über Holz im Überfluß verfügt hatte. An der Wand des Hauses hing eine große hölzerne Felltrommel von fast sechzig Zentimetern Breite und etwa dreißig Zentimetern Tiefe, mit der man die Aufmerksamkeit der Götter erregen konnte. Shan nahm das Haus genauer in Augenschein und erinnerte sich an Nymas Beschreibung des Überfalls der Lujun-Truppen. Nur ein einziges Haus war stehengeblieben. Neben der Tür stand ein kleiner, fünfzig Zentimeter hoher chorten; die Art von Schrein, die man für eine heilige Hausreliquie aufstellte. Gegenüber erhob sich hinter einer weiteren der hier üblichen Erdmauern ein Stall, der stabiler als manche der Häuser aussah. Jeweils ein halbes Dutzend Schafe und Lämmer lagen träge in den Strahlen der Nachmittagssonne.
Shan ging weiter bis zu einem langen flachen Hügel in etwa anderthalb Kilometern Entfernung, der eindeutig von Menschenhand aufgehäuft worden war. Während er dem breiten Pfad folgte, der das Dorf mit dem anderen Ende des Tals verband, blickten lediglich ein paar grasende Schafe auf, aber das Rattern irgendwelcher Maschinen wurde mit jedem Schritt lauter. Der Bohrturm der Ölfirma stand keine hundert Meter jenseits des Hügels.
Bevor Shan sich der Kuppe zuwandte, betrachtete er den weiteren Verlauf des Pfades. Er führte am unteren Rand des grasbewachsenen Bergsattels entlang und im Norden durch eine kleine Bresche im Fels aus dem Tal hinaus, ganz in der Nähe des Öllagers. Vom Bohrturm an hatte man ihn auf voller Länge aufgerissen und mit Bulldozern erweitert. Vor vielen Jahren war einmal eine Armee diesen Pfad heraufgekommen, rief Shan sich ins Gedächtnis, eine rachsüchtige chinesische Armee, die auf dem Rückzug nach Peking einen kleinen Abstecher eingelegt hatte, um das friedliche Tal zu verwüsten. Er ließ die Geschichte noch einmal Revue passieren, während er den kleinen Hügel erklomm. Es war an einem Frühlingstag wie diesem geschehen, vielleicht sogar im gleichen Monat, denn Nyma hatte erzählt, die Salzkarawane sei zu jener Zeit unterwegs gewesen. Die Armee hatte das Dorf mit ihren Geschützen unter Feuer genommen, und die Bewohner waren geflohen, und zwar nicht in die Berge, sondern zu ihrem Gott, weil sie auf Schutz hofften. Dann hatte der chinesische Befehlshaber Soldaten mit Schwertern vorgeschickt und alle Dörfler abschlachten lassen. Shan schaute sich die umliegenden Hänge an. Man konnte die Ruinen kleiner Gebäude und die Umrisse ehemaliger Felder erahnen. Die Gemeinde war früher größer gewesen. Als die Lujun-Soldaten an jenem Tag die Gottheit zertrümmerten, hatten sie zuvor bereits komplette Familien ausgelöscht.
Die Kuppe wurde von einer niedrigen mani -Mauer umgeben, an deren beiden Enden verwitterte Pfosten standen, zwischen denen man jeweils eine Schnur mit Gebetsfahnen aufgespannt hatte. Oben auf dem Hügel lagen - mit kleinen Steinen beschwert - mehr als zwanzig khatas , Gebetsschals, die meisten davon in Fetzen. Ohne recht den Grund dafür zu wissen, nahm Shan einen mani - Stein, streckte ihn erst in Richtung Kuppe und dann in Richtung Öllager. Im selben Moment ließ eine Windbö die Gebetsfahnen flattern, und eine der alten zerfetzten khatas riß sich los und wurde quer durch das Tal auf den westlichen Hang zugeweht.
Lokesh hätte behauptet, dies alles sei kein Zufall, denn es sei Shans Bestimmung gewesen, zu exakt jener Stunde an diesem Ort zu sein, genau wie der Schal nach so vielen Jahren auf dem Hügel immer zur gleichen Sekunde fortgeweht werden würde Das Zusammentreffen der Ereignisse sei in Shans persönlichen Lebensteppich eingewoben, würde Lokesh vielleicht sagen. Es war der Grund, aus dem Lokesh und viele andere Tibeter, die Shan kannte, stehenblieben und aufblickten, wenn die niedrige Flugbahn eines Falken ihren Weg kreuzte, ein vertrocknetes Blatt vor ihnen im Wind tanzte oder eine eigentümlich geformte Wolke kurz den Mond verdeckte. Solche Ereignisse der Natur mochten unerwartet eintreten, aber die Tibeter würden sie niemals für reinen Zufall halten.
Shan legte den mani-Stein zurück und neigte im Angesicht des Hügels, der so vielen Bewohnern von Yapchi als Massengrab diente, ehrfürchtig den Kopf. Dann tat er, was auch Lokesh getan hätte. Er folgte der khata.
Der Schal flog in mehr als hundert Schritten Entfernung quer über die Ebene, sank im einen Moment zu Boden
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