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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Männer in weißen Hemden entrollten ein kleines Banner zwischen zwei Stangen. Klarheit und Wohlstand stand in roten Buchstaben darauf.
    »Auf euch warten neue Gemeinden mit fließendem Wasser und elektrischem Strom. Ihr dürft auch die letzten Ketten des Feudalismus abwerfen. Ihr werdet umgesiedelt«, rief Oberst Lin mit finsterer Miene barsch. »Dieses Dorf wird von der 54. Gebirgsjägerbrigade im Namen des Ölprojekts requiriert. Einige von euch können für die Firma arbeiten und in deren Unterkünften wohnen. Die anderen werden in eine der neuen Städte gebracht.«
    Lin meinte die seelenlosen Komplexe aus Schlackebauten mit Blechdächern, die Peking rund um große Fabrikanlagen errichtete. Es würde keine Gerstenfelder mehr geben, kein Vieh, keine Karawanen zum Lamtso, keine von Gebeten erfüllten Holzhäuser.
    »Wir wurden nicht gefragt«, rief Lhandro zurück. Sein Vater tat etwas Sonderbares: Er bückte sich, nahm einen dicken brennenden Ast aus dem Feuer und hielt ihn wie eine Waffe seitlich von sich.
    »Aber natürlich wurdet ihr gefragt«, erwiderte Lin. »Die Firma hat beim Bezirksrat nachgefragt, und dort wurde in eurem Namen zugestimmt. Es sind eure politischen Vertreter.«
    Der Wind hatte sich gelegt. Lhandro war genauso laut und deutlich zu verstehen wie Lin mit seinem Megaphon. »Im Bezirksrat sitzen nur Chinesen. Keiner von denen war je im Tal von Yapchi«, rief der rongpa. »Wir verlangen, vor dem Rat gehört zu werden.«
    Lin lächelte eisig. »Passen Sie auf, worum Sie bitten, Genosse.«
    »Niemand hat das Land gefragt«, erklang eine dünne, aber starke Stimme. »Niemand hat das Land gefragt, ob es sein Blut hergeben will, damit Chinesen in Peking ihre Autos betanken können.«
    Es war Lepka. Andere Dorfbewohner griffen ebenfalls ins Feuer und nahmen die brennenden\1Ä\2 wie Fackeln in die Hände. Sie hatten keine Waffen. Und sie konnten unmöglich glauben, die Armee wieder loszuwerden, indem sie zwei Lastwagen anzündeten. Shan ließ das Fernglas sinken und trat besorgt einen Schritt vor.
    Lin starrte Lepka wütend an und erteilte einen schroffen Befehl. Die Soldaten neben ihm sprangen von der Ladefläche und formierten sich vor ihrem Oberst zu einer dicht geschlossenen Reihe.
    »Ihr werdet euch jetzt vor dieser Wand da aufstellen«, befahl er den Dörflern. »Haltet eure Papiere bereit. Dann werdet ihr nacheinander zu dem Tisch vortreten.«
    Die Dorfbewohner rührten sich nicht.
    »Ihr werdet euch in einer Reihe aufstellen!« brüllte Lin und ließ das Megaphon fallen. Er öffnete das Holster an seinem Gürtel und legte die Hand auf den Kolben der Automatikpistole.
    Lepka setzte sich langsam in Bewegung, allerdings nicht in Richtung des Tisches, sondern zurück zu seinem Haus. Er fing wieder an zu singen, und seine laute Stimme hallte die Hänge hinauf. Das Lied des einsamen Pilgers. Shan war verwirrt. Was befand sich in dem Beutel über seiner Schulter? Es besaß die Form eines schmalen Kastens mit scharfen Kanten. Die anderen Dörfler fielen in das Lied ein und wichen zwischen die Gebäude zurück. Eine Frau lief los und wischte ein Fenster sauber. Eine andere Frau trat aus einer Tür, hängte ein langes braunes Stück Stoff an einen Pflock neben dem Eingang und rannte hinten um das Haus herum.
    Zwei Soldaten näherten sich Lhandro, als wollten sie an ihm vorbeilaufen, um einen der Dorfbewohner zu packen.
    Lhandro hob eine Hand und stellte sich ihnen in den Weg. Shan sah, daß die andere Hand sein gau umklammert hielt. »Das Dorf Yapchi erwidert eure Umarmung«, verkündete Lhandro laut und ruhig, während sein Vater die Fackel in ihr kostbares hölzernes Haus warf.
    »Nein!« stöhnte Shan und sprang vor, als die anderen Dörfler ihre Fackeln in die anderen Häuser warfen. »Wir müssen sie aufhalten.«
    Aber Lokesh packte ihn so fest am Arm, daß es weh tat. »Da du und ich kein Heim haben«, sagte sein alter Freund, »sehnen wir uns vielleicht zu sehr danach, daß andere das ihre bewahren mögen.«
    Lokesh hatte alles verstanden, nicht im ersten Moment, aber noch bevor die Fackeln geworfen worden waren. »Es ist die einzige Art, auf die sie mit diesen Chinesen reden können.«
    »Das Haus dort ist so alt«, sagte Shan mit heiserer Stimme. »Es ist ihr Tempel.«
    Er wollte sich losreißen, doch Lokesh hielt ihn mit beiden Händen fest. Es war zu spät. Das trockene uralte Holz brannte wie Zunder; die Flammen loderten schon zur Tür hinaus. Lepka humpelte den Pfad hinauf, ohne sich noch

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