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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Felsplatten lösten sich, doch die Soldaten mit den Gewehren im Anschlag achteten nur auf die Gefangenen.
    Lin hob in letzter Sekunde den Kopf. »Dieser Idiot!« brüllte er, sprang panisch vor und griff nach dem Funkgerät am Gürtel. Im nächsten Moment wurde er unter einem Haufen Geröll begraben. Die größten Felsbrocken gingen auf die vier Soldaten nieder, denen nicht einmal mehr die Zeit für einen Aufschrei blieb. Man sah Blut spritzen, und dann waren die Männer verschwunden. Polternd stürzten immer mehr Felsen in die Schlucht hinab und ließen eine gewaltige Staubwolke aufsteigen.
    Dann herrschte schlagartig Stille. Der Staub legte sich, und die Soldaten waren verschwunden - verschüttet unter drei Metern Stein. Nur etwas deutete noch auf sie hin: ein einzelner Arm, der aus dem vorderen Teil des Trümmerhaufens ragte und eine Pistole umklammert hielt. Schließlich fiel die Waffe aus der Hand, und die Finger hingen zitternd in der Luft.

Kapitel 13
    Eine Wolke hüllte sie ein, eine trockene, erstickende Wolke, die wie ein lebendiges Wesen um sie herumwirbelte. Niemand sprach ein Wort. Niemand rührte sich. Dann trieb der Wind den Felsstaub auseinander, bis dieser nur noch einem unheimlichen Nebel glich und Shan die Hand wieder erkennen konnte. Die Finger reckten sich aus dem Schutt, schienen bebend nach etwas zu tasten und hörten allmählich auf, sich zu bewegen.
    Anya trat zögernd zwei Schritte vor. Shan und die anderen verharrten wie betäubt.
    »Weglaufen«, sagte Winslow tonlos. »Wir sollten weglaufen.«
    Aber er bewegte sich nicht von der Stelle.
    Das Mädchen erreichte die Hand und umschloß sie mit den eigenen Händen. Die Finger blieben zunächst schlaff, erwiderten dann aber den Griff, als würden sie erst nach und nach die Berührung spüren. Anya fiel auf die Knie und stimmte ein Mantra an.
    Shan, der noch immer völlig benommen war, kam unwillkürlich an Anyas Seite und ließ sich neben ihr nieder. Gleich darauf spürte er jemanden hinter sich, hob den Kopf und erblickte das grimmige Gesicht des Amerikaners. Winslow starrte Anyas Hand und Lins Finger an und schien sich fast verzweifelt an diesem Bild festzuklammern, als würde er ins Bodenlose stürzen. Shan und Lokesh begannen, das Geröll wegzuräumen.
    Sie benötigten mehr als eine Viertelstunde, um den Oberst freizulegen. Anya hatte unterdessen nicht nur das Mantra weitergebetet, sondern auch ihre mala um die eigenen und Lins Finger geschlungen. Das Gesicht des Obersts war blutüberströmt; vom Scheitel bis zur linken Schläfe gähnte eine klaffende Wunde. Im übrigen schien er unverletzt zu sein, abgesehen von seinem rechten Arm, der unter einer langen Felsplatte klemmte. Shan und Winslow versuchten vergeblich, den Stein anzuheben. Dann fing Nyma an, von unten im Geröll zu graben. Nach einigen Minuten konnten sie Lin herausziehen. Sein rechtes Handgelenk war unnatürlich abgeknickt und die Hand violett angelaufen.
    Nyma stand auf und seufzte. »Ein Stück weiter den Pfad entlang wachsen ein paar kleine Bäume. Ich hole uns Holz zum Schienen.«
    Als sie loslief, hob Winslow die Pistole auf. Danach entnahm er der kleinen länglichen Tasche an Lins Gürtel die Reservemagazine und verstaute sie in seinem Rucksack, ohne auf Shan zu achten. Erst als Winslow die Riemen des Sacks wieder anzog, bemerkte er Shans durchdringenden Blick. Der Amerikaner biß die Zähne zusammen und wandte sich ab, um ein Stück Stoff in lange schmale Streifen zu zerreißen.
    Anya wischte mit ihrer freien Hand und dem Saum ihres Rocks das Blut aus Lins Gesicht, während Lokesh vergebens nach den anderen Soldaten suchte. Nach zehn Minuten kehrte Nyma zurück, und wiederum zehn Minuten später hatten sie Lins Handgelenk mit den Zweigen geschient.
    »Man sollte ihn nicht bewegen«, erklärte Nyma. »Er hat eine furchtbare Gehirnerschütterung erlitten.«
    »Uns bleibt nichts anderes übrig«, widersprach Winslow und stand auf. Keiner von ihnen konnte hier bei Lin zurückbleiben, und wegen des verschütteten Zugangs würden seine Männer ihn kaum vor Einbruch der Dunkelheit finden. Der Amerikaner reichte Shan seinen Rucksack, beugte sich vor und stützte beide Hände auf den Oberschenkeln ab.
    Nyma nickte widerwillig und half den anderen, Lin auf Winslows Rücken zu heben.
    Shan und der Amerikaner wechselten sich beim Tragen ab. Als sie irgendwann um einen Felsen bogen, tauchten endlich Lhandro und zwei Männer aus seinem Dorf auf. Nyma faßte die Ereignisse kurz für

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