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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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einmal umzublicken. Er hatte noch immer den Sack dabei. Shan wußte nun, was sich darin befand. Unter all den in Ehren gehaltenen Schätzen des Hauses gab es einen, den der alte Tibeter nicht zurücklassen würde. Das Foto des Dalai Lama.
    Lin brüllte wütende Befehle, und seine Soldaten rannten los. Der Mann in der grünen Jacke zog ein Funksprechgerät aus der Tasche und schrie etwas hinein. Kurz darauf ertönte in der Ferne das Signalhorn.
    Einer der Soldaten bei Lhandro hieb ihm mit einem Schlagstock in den Magen. Der rongpa faßte sich an den Leib, stürzte zu Boden und blieb zusammengekrümmt auf der niedrigen Mauerkrone liegen.
    Lokesh lief Lepka entgegen, um ihm den steilen Hang hinaufzuhelfen, während andere Dörfler ihn bereits überholten. Shan starrte sie verzweifelt an. Es bestand keine Hoffnung mehr. Die Soldaten würden sie mit Leichtigkeit einholen und den Kriechern übergeben. Sie hatten Staatseigentum zerstört und den Fortgang eines wichtigen Wirtschaftsprojekts behindert.
    Eine Frau blieb vor ihm stehen. Es war die korpulente Alte, die ihn am ersten Tag ins Dorf begleitet hatte. »Danke«, sagte sie sanft. »Wir werden unseren Gott an einem anderen Ort finden müssen.«
    Die Worte trafen Shan völlig unvorbereitet. Diese Menschen hatten ihr Dorf und ihr Tal aufgegeben. Sie widersetzten sich offen der Armee. Trotzdem hielt die Frau inne, um sich bei Shan zu bedanken. Ihm stiegen Tränen in die Augen. »Euer Gott ist noch immer hier«, sagte er, aber niemand hörte ihn.
    Ein verrückter Gedanke schoß ihm durch den Kopf: Er würde hoch in die Klippen steigen und hierbleiben, jeden Felsen umdrehen und eine Möglichkeit ersinnen, den Zorn der Gottheit auf die Soldaten herabzubeschwören. Dann jedoch sah er Lokesh und die anderen an, die sich den Hang hinaufmühten. Sie brauchten seine Hilfe.
    Aus Richtung des Lagers näherten sich mit hoher Geschwindigkeit weitere Lastwagen. Shan dachte an den Kreis am Feuer zurück und erkannte, daß die meisten der Dorfbewohner längst aufgebrochen waren. Außer Lhandros Eltern, die zweifellos darauf bestanden hatten, bis zum Ende vor Ort zu bleiben, war keiner der Alten mehr anwesend. Sie hatten es alle gewußt und geplant. Liebevoll hatten sie ihre Häuser gereinigt, so wie man eine Leiche für die Todesriten säuberte. Die Geschichten und Lieder am Feuer waren ihre Form des Abschieds von diesem wunderschönen Dorf gewesen. Jemand lief an Shan vorbei, um Lokesh und dem alten Mann zu helfen.
    Es war Nyma, gekleidet wie eine rongpa , mit einem verschlissenen roten Tuch um die Schultern. Ganz in der Nähe erklang ein leises Schnauben. Shan drehte sich um und entdeckte Gyalo und Jampa. Lepka lachte leise, als Nyma ihm auf den breiten Rücken des Tiers half. Dann machten der Yak und der Mönch sich überraschend zügig auf den Weg. Der alte Tibeter reckte fröhlich die Hand empor. »Lha gyal lo!« rief er, und Lokesh, der einen Schritt hinter ihm folgte, fiel in den Ruf ein.
    Dennoch war alles völlig aussichtslos, dachte Shan verbittert.
    Doch Nyma wartete auf ihn und drängte ihn durch einen Spalt in der hohen Felswand, der breit genug für einen der Geländewagen der Armee gewesen wäre. Sobald sie die Stelle passiert hatten, streckte Nyma den Arm aus und winkte. Oben auf dem Grat kamen zwei Gestalten zum Vorschein. Shan sah eine Messerklinge aufblitzen und hörte das Schwirren eines durchtrennten Seils. Dann stürzten Baumstämme und Felsen in den Durchgang. Nyma warf einen kleinen Stein auf den Haufen, wandte sich mit zufriedenem Lächeln um, raffte mit einer Hand ihr Kleid und lief den Pfad hinauf. Auf dem nächsten Kilometer gab es noch zwei weitere Engpässe dieser Art. Jedesmal tauchten über ihnen Männer auf und ließen Felsen und Bäume herabrollen, um den Weg zu blockieren. Oberhalb des letzten Hohlwegs stand Winslow und schichtete hektisch Steine und Äste auf, die über eine Kette aus Dorfbewohnern zu ihm heraufgereicht wurden.
    Hinter ihnen, in nur wenigen hundert Metern Entfernung, hörten sie Trillerpfeifen und wütende Rufe. Winslow zögerte, schaute in Richtung der anrückenden Soldaten und warf Steine in den Spalt, wobei er die gleichen johlenden Schreie ausstieß wie bei seinem Ritt auf dem wilden Yak.
    »Die wissen, daß wir auf dem Pfad sind, also können sie uns bei Chemis altem Dorf abfangen«, stellte Shan fest. Es hatte keinen Sinn. Sie konnten nirgendwohin fliehen, konnten auf keinerlei Rettung hoffen.
    »Die purbas rechnen nur mit Lin

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