Das tibetische Orakel
und seinen Männern. Sie glauben nicht, daß die Schreihälse oder Ölarbeiter den Soldaten zu Hilfe kommen werden«, sagte Nyma. »Gyalo und Jampa haben inzwischen reichlich Vorsprung. Sobald sie die Schlucht oberhalb von Chemis früherem Dorf erreichen, dürften die Alten in Sicherheit sein. Das Gelände dort gleicht einem Labyrinth und steckt voller Höhlen. Die Gruppen teilen sich auf. Die purbas glauben, daß die Armee keinen großen Wert auf eine Verfolgung legen wird, sondern in erster Linie dafür sorgen will, daß die Ölteams weiterarbeiten können.«
Doch die purbas hatten Oberst Lins eisigen Blick nicht gesehen. Sie wußten nicht, auf welche Weise er Lokesh und Lhandro beim ersten Zusammentreffen gemustert hatte, und waren nicht Zeugen seines Wutausbruchs gewesen, als die Häuser Feuer fingen.
Shan wartete, bis Winslow zu ihnen hinabgestiegen war. »Sie sollten gehen. Beeilen Sie sich. Helfen Sie nach Möglichkeit Lokesh.«
Winslow runzelte die Stirn. Dann fluchte er und nickte langsam. »Adios, Partner.«
Mit schnellen Schritten eilte er den Berg hinauf und ließ Shan allein bei Nyma zurück. Shan sah dem Amerikaner hinterher. Ihm waren nicht nur dessen letzte Worte ein Rätsel, er konnte sich zudem nicht erklären, weshalb Winslow immer noch bei ihnen blieb. Melissa Larkin war tot, und der Amerikaner wurde in der Botschaft zurückerwartet.
Ein Stück unterhalb rief jemand nach ihnen. Zu Shans Erstaunen kam Lhandro zwischen den Felsen zum Vorschein. Er trug einen Schutzhelm und eine der grünen Jacken der Firma. Es handelte sich um die Jacke, die Shan von Somo erhalten hatte, erläuterte der rongpa und ließ den Blick nervös über das tiefergelegene Gelände schweifen. Er hatte die Kleidungsstücke jenseits der Mauer bereitgelegt und sich in dem Durcheinander bei Ausbruch des Feuers hinübergerollt, um vermeintlich bewußtlos liegenzubleiben. Als wenige Minuten später die Löschtrupps aus dem Lager eintrafen, hatte er Jacke und Helm übergestreift und sich unter die Arbeiter gemischt.
Sie eilten weiter. Lhandro wies Shan und Nyma an, in der Schlucht zu bleiben, und lief voraus, um die anderen Dorfbewohner ausfindig zu machen. Eine halbe Stunde später hielten sie in der Nähe der Ruinen von Chemis Dorf. Nirgendwo schien sich etwas zu rühren, aber der Wind trug ein Geräusch an ihre Ohren, ein lautes metallisches Klirren. Shan und Nyma überquerten die Lichtung und erreichten die Schlucht, während das Geräusch immer lauter wurde. Dann hörten sie Stimmen aus einem Funkgerät, und ein Schuß peitschte auf. Hoch über ihnen prallte ein Querschläger ab. Die Armee wollte sie nicht töten, sondern in Gewahrsam nehmen. Weit vor sich sahen sie Gestalten hinter einer Wegbiegung verschwinden. Auf einmal explodierte dreißig Meter über ihren Köpfen die Felswand. Der Panzer feuerte in die Schlucht.
Shan drehte sich kurz um. Am Eingang der Klamm tauchte Lin auf. Der Oberst hielt seine Pistole in der Hand und wurde von vier Soldaten begleitet. Nur vier. Doch vier Männer mit automatischen Waffen würden mehr als genug sein. Ein zweiter Warnschuß schlug über ihren Köpfen ein, dann ein dritter. Shan konnte weiterlaufen, doch dreißig Meter vor sich sah er Lokesh, den Amerikaner und zwischen ihnen Anya, die immer wieder entsetzte Blicke über die Schulter warf.
Die Schlucht verengte sich und knickte seitlich ab. Einen Moment lang konnte Lin sie nicht sehen, doch gab es hier weder irgendein Versteck noch eine Möglichkeit, die hohen, fast senkrechten Wände zu erklimmen. Sie erreichten Lokesh und Winslow, die beide völlig erschöpft wirkten. Shan legte sich Lokeshs Arm um den Nacken und schleppte ihn weiter den Pfad hinauf. Nyma ließ Anya auf ihren Rücken steigen. Vor ihnen lag nun ein langer, gerader Schacht. Verzweifelt eilten sie auf das andere Ende zu. Auf halber Strecke knallte hinter ihnen erneut ein Gewehr, dann noch einmal und noch einmal. Shan sah die Treffer an der Felswand, jeder tiefer und näher als der vorherige. Die letzte Kugel schlug zwei Meter vor Nyma ein. Stöhnend gab sie sich geschlagen und drehte sich langsam um.
»Verrat!« rief Lin, der auf sie zurannte. »Zerstörung von Staatseigentum! Sabotage! Ihr werdet niemals.«
Seine Worte gingen im Lärm einer heftigen Explosion unter, der gleich darauf zwei weitere folgten. Der Panzer schoß auf die Felswand. Dreißig Meter über ihnen tat sich eine große Lücke auf, die unter jedem neuen Einschlag heftig erbebte. Riesige
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