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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Schaf würde niemals abstürzen, weil die Hufe auf den Steinen Halt finden.«
    Shan schob sich vorsichtig neben ihn und wies auf einen braunen klebrigen Fleck im Genick des Tiers. »Es ist nicht durch ein Sturz gestorben, sondern wurde erschossen.«
    »Erschossen und hier zurückgelassen? Wer würde.«
    Winslows Stimme erstarb erneut. Vorsichtig legte er eine Fingerspitze auf das dichte Wollkleid zwischen den Ohren des Tiers. »Einmal saß ich mit einem tibetischen Bürokraten im Flughafen und wartete ab, daß man eine der Leichen in die Maschine verladen würde. Er hielt meinen Job für ziemlich komisch und sagte, alles in Tibet habe seit jeher mit Vergänglichkeit zu tun, und das sollte den Leuten lieber klar sein, bevor sie herkommen. Später habe ich dann begriffen, daß er es für amüsant hielt, daß jemand von der Vergänglichkeit überrascht werden konnte.«
    Er streichelte das Tier zwischen den Ohren, als müsse es getröstet werden.
    Sie hatten beide das Gefühl, das tote Tier nicht einfach zurücklassen zu können. Dieses wunderschöne Schaf war in einem kurzen grausamen Moment nichtsahnend aus dem Leben gerissen worden. Shan betrachtete die Lage des Kadavers. Das bharal hatte oben am Rand der Klippe gestanden, auf sein Revier hinausgeschaut und keinen Gedanken an die Belange der Menschen verschwendet, bis ein Schuß sein Schicksal urplötzlich besiegelte.
    »Das geht nicht auf Larkins Konto«, sagte Winslow, als würde er die Frau kennen.
    »Nein«, stimmte Shan ihm zu. »Jemand anders war hier.«
    Es war ein sauberer Treffer, vermutlich abgefeuert aus einem Gewehr mit großer Reichweite und Zielfernrohr. Ein Jäger kam als Schütze nicht in Betracht, denn der hätte das Tier leicht bergen können. Diese prächtige Kreatur war aus einer Laune heraus ermordet worden, nur um des reinen Tötens willen. Es war die beiläufige Tat eines Menschen, der einen schnellen Schuß abgab, lachte und weiterzog.
    Shan und Winslow sahen sich zornig an. Als der Amerikaner aufstand, schien eine schwere Last auf seinen Schultern zu ruhen. Er stützte sich an der Seite des Spalts ab, als könne er sich nur mühsam auf den Beinen halten.
    »Wir sollten etwas tun«, sagte er und klang dabei wieder ganz hilflos.
    Shan entgegnete nichts und fing an, auf einem flachen Felsen hinter dem Schaf einen Steinhaufen zu errichten, der dort dem Licht und dem Wind preisgegeben sein würde. Sie arbeiteten schweigend, und nach zehn Minuten war der schmale Haufen rund einen halben Meter hoch. Shan erinnerte sich an die alte khata , die er seit dem Öllager in der Tasche trug, und beschwerte sie mit dem obersten Stein.
    Winslow nickte ernst, schloß die Augen wie zu einem kurzen Gebet und stieg zurück auf die Klippe. Oben schlug er den Rückweg ein. Anscheinend war er nicht länger daran interessiert, die Gegend abzusuchen.
    Als sie den eigentlichen Grat erreichten, zog er ein weiteres Mal die Karte zu Rate. »Es ist gar nicht so weit nach Yapchi«, sagte er und deutete auf zwei lange steile Bergkämme im Norden. »Bloß sechseinhalb Kilometer.«
    Er sah Shan an. »Ich möchte wissen, wo Zhus Team steckt und was aus den anderen Zeugen geworden ist.«
    Shan beschlich ein ungutes Gefühl. Winslow wollte sich quer durch das trügerische Terrain bis nach Yapchi vorarbeiten, wo es inzwischen von wütenden Soldaten auf der Suche nach Lin wimmeln mußte. Doch auch Shan hatte keinen Zweifel daran, daß die Antworten auf ihre Fragen in dem Tal zu finden waren. Er nickte zögernd und bedeutete Winslow, er solle vorangehen. Zehn Minuten später hob der Amerikaner die Hand. Zwischen ihnen und dem ersten der beiden Bergkämme gähnte eine tiefe, unpassierbare Schlucht, die nicht auf der Karte eingetragen war. Sie würden Yapchi keinesfalls noch am selben Tag erreichen können. Der Amerikaner machte kehrt, blieb stehen und deutete grinsend nach vorn. Auf dem Grat des hinteren Bergrückens gingen ein Mönch und ein Yak. Der Mann folgte dem Tier, als würde es ihn irgendwohin führen. Lepka hatte erzählt, Gyalo und Jampa hätten ihn bis zu dem schmalen Pfad gebracht, der hinunter zum Mischsims verlief, und seien dann weitergezogen.
    Shan mußte an das bharal denken und sorgte sich um den Mönch. Gyalo half der Bevölkerung, er transportierte Kranke und Vorräte oder suchte vielleicht nach einem guten Meditationsfelsen. Womöglich ließ er Jampa nach einer geeigneten Stelle Ausschau halten.
    »Ihr Freund wird mich besuchen«, sagte Winslow plötzlich und

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