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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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an. »Die Leute brauchen dich.«
    Aber die Worte blieben ihm im Hals stecken.
    Nyma schaute in Richtung der Berge im Westen. Über ihnen ertönte ein lautes Krächzen, der Schrei eines Ziegenmelkers.
    »Wir könnten entlang dieser Gipfel zur Hauptkette des Kunlun-Gebirges ziehen und ihr dann tausend Kilometer weit folgen. Das könnte Monate dauern, und vielleicht würde uns unterwegs kein einziger Mensch begegnen.«
    Sie klang sehnsüchtig.
    Plötzlich wurde Shan klar, wo sie sich befanden, und er wußte, daß auch Winslow bald zu dieser Erkenntnis gelangen würde. Nur vier oder fünf Kilometer von hier entfernt war Melissa Larkin in den Tod gestürzt.
    Lokesh lag noch schlafend neben Lin, als Shan und Winslow am nächsten Morgen aufbrachen. Am Abend zuvor, als Shan letztlich hineingegangen war, um zu essen, hatte der Amerikaner seine Landkarte studiert. Keiner der beiden hatte das Thema angeschnitten, doch als Winslow sich im Morgengrauen auf den Weg machte und zum westlichen Ausläufer des Berges aufstieg, folgte Shan in nur wenigen Schritten Abstand.
    »Sie hätten bei den anderen bleiben und sich ausruhen können«, sagte Winslow, als Shan ihn einholte.
    »Ich muß mich selbst vergewissern«, entgegnete Shan.
    »Aber Melissa Larkin ist meine Angelegenheit«, stellte der Amerikaner fest.
    »Dieser Berg hat uns noch viele Geheimnisse zu verraten«, wandte Shan ein. »Nicht nur über Larkin.«
    »Ich dachte, mit dem gestrigen Tag hätte sich das alles erledigt.«
    Shan nickte. »Manches ja. Aber ich glaube, daß dafür etwas anderes in Gang gesetzt wurde.«
    Statt etwas zu erwidern, deutete der Amerikaner auf ein stattliches blaues Schaf, ein bharal , das über ihnen majestätisch auf einem Sims thronte und sich so weit über die Kante beugte, daß es beinahe in der Luft zu schweben schien. Shan erinnerte sich an die Geschichte, daß etwas ihn einst veranlaßt habe, auf einen Hügel zu klettern und einen kleinen Stein von dort zu entfernen. Der Amerikaner eilte im Laufschritt weiter, als fürchte er, etwas zu verpassen.
    Dreißig Minuten später holte Shan ihn an einem seltsamen Ort wieder ein. Es war eine flache Nische im Fels, über der in fünfzehn Metern Höhe Wasser aus dem Stein trat und an der nahezu senkrechten Wand hinabfloß, nicht als Wasserfall, sondern als glitzerndes Band von fast zehn Metern Breite, bewachsen mit Moos und kleinen Farnen. Das Wasser fiel auf eine Steinplatte, die vor Urzeiten von oben herabgestürzt war und einen geschützten Alkoven gebildet hatte. Nein, das Wasser fiel hinter die Platte und floß darunter hindurch, erkannte Shan, als er näher kam. Deshalb gab es hier eine absolut waagerechte, trockene Fläche, die von einer üppigen Wand aus lebendigen Pflanzen umgeben wurde und einerseits windgeschützt, andererseits von der Sonne beschienen war. Auf der Platte wuchsen in mit Erde gefüllten Vertiefungen weitere Pflanzen, wie Shan sie nirgendwo sonst auf dem Berg gesehen hatte.
    »Schauen Sie sich das an«, sagte Winslow erstaunt. Shan gesellte sich zu ihm auf die andere Seite eines großen, annähernd quadratischen Felsens am Rand der Platte. Im Boden sah er drei runde, gleichmäßig voneinander entfernte Mulden, die jeweils etwa dreißig Zentimeter breit und zwanzig Zentimeter tief waren. Davor standen im Halbkreis sechs flache Felsen von ebenfalls dreißig Zentimetern Breite und knapp einem halben Meter Höhe.
    »Wer. was war. wozu hat man das gemacht?« fragte Winslow verwundert.
    Shan kniete sich neben eine der Mulden und berührte ihre Oberfläche. Die Steine und Löcher waren leicht unregelmäßig geformt und schienen nicht von Menschenhand zu stammen, doch das Gegenteil mußte der Fall sein - man hatte hier Arzneien angemischt. Er sah, daß der Amerikaner mit einer Hand über die flache Rückseite des Felsblocks strich, der den Halbkreis beschirmte. Mittlerweile war ein Teil der Oberfläche von Flechte überwuchert, doch man konnte die eingemeißelten tibetischen Schriftzeichen noch immer erkennen.
    »Die Kräuterplatte«, flüsterte Shan und erzählte Winslow, was Lokesh ihm von den Lama-Heilern und diesem Berg berichtet hatte.
    Der Amerikaner wirkte zutiefst bewegt und betastete immer wieder die uralte Inschrift. »Sie wußten so viel«, sagte er, »so viel, das wir nicht wissen. Und das wir niemals wissen werden.«
    Shan nahm vorsichtig auf einem der steinernen Hocker Platz, so wie es früher die Lamas getan hatten. Eine sanfte Brise trug ungewohnte Düfte heran. Er roch

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