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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Minze und Fenchel, vermischt mit anderen, schärferen Gerüchen. Die Macht dieses Ortes hing wie ein feiner Nebel in der Luft, ohne auch nur im mindesten einschüchternd zu wirken. Shan fühlte sich entspannt und hellwach zugleich. Es war ein Ort, an dem die Heilung begann.
    Winslow rief Shan zu einem größeren Moosfleck unter der Steinplatte. Man konnte Fußspuren erkennen; jemand hatte kürzlich dort gelegen.
    »Zwei Personen«, sagte der Amerikaner und erhob sich. »Nicht letzte Nacht, aber vor kurzem.«
    Er drehte sich um und ließ den Blick angestrengt über die Landschaft schweifen. Auf einer Wiese oberhalb von Rapjung, keine acht Kilometer von hier entfernt, hatten sie zwei Kräutersammler gesehen, den Geisterlama und seinen Begleiter. Mit großen Schritten machte Winslow sich auf und folgte dem weiteren Verlauf des Pfades.
    Eine halbe Stunde später blieb er stehen und schaute zu einem Schneefleck auf dem Hang hoch über ihnen. »Was sollte Zhus Versteckspiel?« fragte er auf einmal. »Warum ist er in den Bergen herumgeschlichen, ohne Jenkins davon zu erzählen?«
    Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern eilte weiter, bis sie den Kamm des langen Berggrats erreichten. Dort breitete er die Landkarte auf einem flachen Felsen aus. Westlich von ihnen ragte eine hohe Klippe auf und bildete eine riesige senkrechte Wand, die erst nach mehreren hundert Metern zu den Schluchten hin abfiel.
    »Wir haben uns nie erkundigt, wo Zhus Team war, als er die Leiche sah«, sagte Shan. »Wir haben Jenkins nur nach Larkins Leuten gefragt, nicht nach denen von Zhu.«
    Er betrachtete die Landschaft. Diese Klippe hatte Zhu ihnen auf der Karte gezeigt. Hier war Melissa Larkin abgestürzt. Jemand hätte es von dem Hang aus beobachten können, über den sie hierher aufgestiegen waren, oder von dem flachen Grat, auf dem sie nun standen und der parallel zu der Klippe verlief. Allerdings konnte dieser Jemand nicht im offiziellen Auftrag des Ölprojekts unterwegs gewesen sein, denn diese Gegend lag außerhalb der Grenzen, die Jenkins bei Winslows erstem Besuch in die Karte eingezeichnet hatte. Sowohl Larkin als auch Zhu hätten sich demnach außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs bewegt.
    Eine halbe Stunde später befanden Winslow und Shan sich oben auf der Klippe, arbeiteten sich schweigend voran und blieben alle paar Minuten stehen, um hinunter in die schattigen Tiefen zu starren. Besorgt verfolgte Shan, wie der Amerikaner sich über die Kante beugte. Streckenweise liefen sie auf hartem Granit, aber an vielen Stellen spürten sie loses Geröll unter den Stiefeln. Man konnte leicht ausrutschen und den Halt verlieren; es erschien gut möglich, daß jemand in einem akuten Anfall von Höhenkrankheit ins Taumeln geraten und in die Tiefe stürzen könnte. Winslow griff sich plötzlich an die Stirn, und Shan sprang vor.
    »Es ist alles in Ordnung«, sagte der Amerikaner und schob ihn weg. »Ich habe eine Tablette geschluckt.«
    »Hatte Larkin auch solche Pillen?« fragte Shan.
    »Keine Ahnung.«
    Winslow schaute nach unten zu einem schmalen Wasserlauf, der vom Fuß der Klippe wegführte und im Dunkel einer der gewundenen Schluchten verschwand.
    Mit einem Mal fiel Shan im Sonnenlicht ein Farbfleck ins Auge. Auf einem schmalen Vorsprung, der in dreißig Metern Entfernung und sechs Meter unterhalb der Kante aus der Klippe ragte, lag mitten in einem Gewirr aus Felsbrocken etwas Hellgraues oder Blaues. Kaum hatte Shan ihn darauf hingewiesen, lief Winslow auch schon los. Als Shan ihn wieder einholte, hatte der Amerikaner sich bereits in den Spalt gewagt, durch den man den Vorsprung erreichen konnte. »Es ist zu gefährlich«, rief Shan. Er sah nun, daß es sich bei dem Vorsprung genaugenommen um das Ende einer großen Felsplatte handelte, die irgendwann von der Klippe abgebrochen und wie ein Keil in der Spalte steckengeblieben war. Womöglich genügten nur wenige Kilogramm zusätzliches Gewicht, um die Platte endgültig abstürzen zu lassen.
    Winslow achtete nicht auf Shan und stieg auf den Vorsprung hinunter. Shan folgte ihm und erschauderte, als er sah, wie bleich der Amerikaner geworden war. Zwischen den Felsen lag ein totes bharal , eines jener seltenen, vom Aussterben bedrohten blauen Schafe. Das Tier war seit ungefähr einer Woche tot, sofern man dies in der trockenen kalten Luft überhaupt feststellen konnte.
    Winslow strich über das dicke Gehörn. »Ich dachte.«, setzte der Amerikaner an und hielt wieder inne. »Ich dachte, ein solches

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