Das tibetische Orakel
erreichen kann, falls er stirbt. Es muß Millionen von Lins auf der Welt geben, und es schmerzt mich, wie wenig ich sie begreife. Es gibt zwischen uns keinerlei Verbindung. Weder mit mir noch mit der Erde oder der Welt, wie ich sie kenne. Wie kann ich da die Essenz in seinem Innern ansprechen?«
Der alte Mann seufzte. »Ich fühle mich so unvollständig, Xiao Shan. Bei so großen Unterschieden kann es keine Heilung geben.«
Auch Shan fand keine Worte. Es ging ihm sehr nahe, daß dieser weise, gütige Tibeter sich durch einen Mann wie Lin unzulänglich vorkam.
Schweigend saßen sie nebeneinander, während es immer dunkler wurde. Shan erkannte allmählich, wie einzigartig dieses kleine Plateau war. Der gewaltige Felsturm in seinem Rücken schützte es vor dem Nordwind, und der Blick nach Süden und Westen erstreckte sich über Dutzende von Kilometern, so daß man jenseits der niedrigeren Bergketten sogar die karge, wunderschöne Changtang ausmachen konnte. Nach tibetischer Tradition war dies ein überaus machtvoller Ort. »Die Einsiedler, die hier lebten«, sagte Shan schließlich. »Sind sie aus Rapjung hergekommen?«
»Das hier war keine Einsiedelei im eigentlichen Sinne. Ich kannte sie - oder nein, ich hatte von ihr gehört. Es gab damals zwei solche Orte; beide auf dieser Seite des Berges und hoch über Rapjung. Jahrhundertelang wurden sie jeden Sommer von den Lama-Heilern aufgesucht, weil sie mächtige Mischplätze waren. Einer hieß Mischsims und lag am Rand einer gewaltigen Klippe, und den anderen, ganz in der Nähe, nannte man Kräuterplatte.«
»Mischplätze?« fragte Shan.
»Es gibt Arzneien, deren Herstellung Stunden dauert, weil man dabei bestimmte Gebete sprechen muß und nur besondere geweihte Werkzeuge benutzen darf. Jeder Wirkstoff muß in genau der richtigen Menge und Reihenfolge hinzugegeben werden, damit die Erdkraft darin erhalten bleibt. Sobald man mit der Arbeit begonnen hatte, konnte man nicht vorzeitig wieder aufhören. Und für manche Arzneien mußte der Lama sich in einer besonderen Gemütsverfassung befinden, was bedeutete, daß er zunächst in einer Meditationszelle oder unter dem Nachthimmel ausharrte. Ich glaube, wenn im Sommer der Vollmond am Himmel steht und sein Licht von der Bergwand widerscheint, gibt es keinen zweiten Ort wie diesen. Vom Mischsims erzählte man sich, daß es eigene Heilkräfte besaß, als wäre es selbst eine Art Medizin.«
Sie ließen ihre Blicke über den endlosen Himmel und das weite Land schweifen, das immer mehr im Schatten versank. Irgendwann erklang dicht hinter ihnen die Stimme einer Frau. »Das Essen ist fertig.«
Shan drehte sich um und sah Nyma. Sie schien keinen großen Hunger zu verspüren und setzte sich auf einen nahen Felsen. »Wo sollen wir hin?« fragte sie nach langem Schweigen. Als niemand etwas darauf erwiderte, gab sie sich selbst eine Antwort. »Auf der anderen Seite des Berges sind die Gebirgsjäger«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Die werden glauben, wir hätten die vier Soldaten getötet. Der dobdob ist hinter uns her und lauert vielleicht in diesem Moment irgendwo auf dem Berg. Unten liegt Norbu gompa mit all den Schreihälsen. Einige meiner Leute sind voller Haß. Ein paar von ihnen möchten am liebsten umkehren und das Öllager sabotieren.«
Sie sah Shan an. »Sie haben keine Hoffnung mehr. Da ist nur noch Wut.«
»Du weißt, wohin das führen würde«, erwiderte er. »Falls es auch nur das geringste Anzeichen für bewaffneten Widerstand gibt, wird die Armee einen Stützpunkt errichten, das Kriegsrecht verhängen und einen Mann wie Lin als Leiter des Bezirks einsetzen, und zwar für viele Jahre.«
»Ich habe heute auch großen Zorn verspürt«, gestand sie. »Unser schönes Dorf.«
Bei der panischen Flucht den Berg hinauf hatte Shan gar nicht darüber nachgedacht, warum Nyma kein Nonnengewand mehr trug. Um zwischen den anderen Flüchtenden nicht aufzufallen, lautete sein erster Gedanke, doch dann fiel ihm die Frau wieder ein, die in letzter Minute aus einem der Häuser gelaufen war und ein braunes Stück Stoff neben den Eingang gehängt hatte. »Dein Gewand«, sagte er. »Du hast es zurückgelassen, damit es verbrennt.«
»Es steht mir nicht zu«, sagte Nyma mit hohler Stimme. »Diese Lüge muß ein Ende haben. Ich bin keine Nonne. Falls es bei uns eine echte Nonne gegeben hätte, wäre vielleicht nichts von alldem geschehen.«
Ein leises trauriges Stöhnen drang über Lokeshs Lippen.
»Du kannst nicht.«, setzte Shan
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