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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Shan berührt hatte, war ein elektrisierendes Kribbeln seinen Arm hinaufgeschossen. Manchmal kommen Gottheiten vorbei und ändern das Leben der Menschen für immer, hatte Anya gesagt.
    An Jokars linker Hand fehlte bis auf einen winzigen Stumpf der kleine Finger. Shan erinnerte sich an Lokeshs Geschichte: Die Heiler von Rapjung pflegten ihre Kräuter mit großen Hackmessern zu zerkleinern, und manch ein unerfahrener Schüler büßte dabei einen Finger ein. Es mußte vor vielen Jahrzehnten geschehen sein.
    Shan erblickte vor dem inneren Auge die Ebene von Rapjung, wie sie vor sechzig Jahren ausgesehen hatte. Der junge Lokesh saß bei seinem Lehrer Chigu und bei Jokar, der damals noch nicht lange als Heiler wirken durfte. Über ihnen flogen Gänse vorbei, und Jokar freute sich lautstark über ein seltenes Kraut, das er gefunden hatte. Neben ihnen landete eine Lerche und verwandelte sich in einen Stiefel. Dann sah Shan einen Mann mit dunkler Brille, der ihm vier dicke Finger vor die Nase hielt. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schwächeanfall, und er befand sich schlagartig wieder in der Kammer, mußte nach Luft ringen und fröstelte. Mit wackligen Knien stand er auf und ging nach draußen.
    Als er sich kurz darauf an die Felswand lehnte und zum Himmel blickte, kam Nyma. »Was ist los? Bist du krank?«
    »Nein, nicht krank«, murmelte er.
    Sie starrte ihn an und wich zögernd einen Schritt zurück, als würde etwas an ihm sie ängstigen.
    »Nyma, entsinnst du dich noch an den Morgen in Norbu, als wir dachten, die Kriecher würden uns verhaften?«
    »Diesen furchtbaren Morgen werde ich nie vergessen«, antwortete sie und setzte sich neben ihn.
    »Der Arzt war ungeduldig und nicht gut auf Khodrak und das Komitee zu sprechen, als würden sie seine Zeit verschwenden. Er gehörte nicht zur örtlichen Dienststelle der öffentlichen Sicherheit, sondern war aus einem bestimmten Grund von weither angereist.«
    »Ein besonderes Sanitätsteam aus Lhasa«, sagte Nyma.
    »Aber sie sind nicht direkt aus Lhasa gekommen. Der Novize hat während unseres Rundgangs erzählt, daß sie lange unterwegs waren und von der indischen Grenze aufgebrochen sind.«
    Shan schaute wieder zu den Sternen empor. »Der Arzt hat den Offizier angesehen und die Finger gehoben. Vier Finger. Ich dachte, er wolle damit sagen, daß wir dort im Stall nur zu viert anstatt zu fünft waren.«
    »Aber sie waren doch tatsächlich hinter Tenzin her.«
    »Jemand war hinter Tenzin her.«
    Shan nickte. »Khodrak, glaube ich, und Tuan. Doch dieser Offizier wollte etwas anderes. Es gab einen Grund dafür, daß dieses Sanitätsteam gemeinsam mit den Kriechern unterwegs war. Mehrere Wochen lang und aus Richtung der indischen Grenze. Tuan hat in Norbu zu mir gesagt, die Ärzte seien wegen eines Agitators aus Indien dort. Ich dachte, damit sei ein Widerstandskämpfer oder sogar der Tiger gemeint. Aber er hat von Jokar gesprochen.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Seine Finger. Er hat den kleinen Finger abgeklappt und die anderen vier hochgehalten. Das ist doch seltsam. Die meisten Menschen würden statt dessen den Daumen anwinkeln. Er jedoch hat den Daumen und die ersten drei Finger ausgestreckt.«
    »Das ist Jokar«, flüsterte Nyma langsam.
    »Nicht ganz«, widersprach Shan. »Sicher, Jokar war gemeint. Man sucht nach einem Heiler mit vier Fingern und verfolgt ihn mit einem Team, das ihm die Kranken abspenstig machen soll, indem es Behandlungen in chinesischen Kliniken verspricht. All jene, die traditionelle Heiler vorziehen, dienen als zusätzlicher Beweis gegen ihn. Die Regierung glaubt, er habe auf dem Weg von Indien hierher überall reaktionäre Praktiken geschürt.«
    »Falls das zutrifft, erklärt es auch, warum man versucht, Heilpflanzen zu verbrennen«, erklang eine Stimme aus der Dunkelheit. Winslow gesellte sich zu ihnen.
    »Aber warum?« protestierte Nyma. »All diese Gerüchte und Zeitungsartikel. Es klingt, als würden die Behörden nach einem schrecklichen Verbrecher fahnden. Er ist ein Heiler. Er bedeutet den Tibetern unendlich viel.«
    Sie sah Shan an und senkte dann den Blick. Sie hatte sich die Frage soeben selbst beantwortet.
    Winslow ließ sich auf einem Felsen nieder, und so saßen sie zu dritt schweigend da. Eine neue Vision stieg vor Shan auf: Jokar in einem lao-gai-Lager , wie er von den Wachen ausgepeitscht wurde, während er versuchte, eine Schubkarre voller Steine einen Hügel hinaufzuschieben.
    »Er wollte uns doch nur sein Wissen vermitteln und die

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