Das tibetische Orakel
Horizont waren vollständig verblaßt und die Nacht beinahe schon hereingebrochen. Nyma kniete weinend neben ihm.
»Lokesh?« fragte er erschrocken.
Sie nickte und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab. »Er hat ihn gefunden. Er ist in die Berge gegangen und hat ihn gefunden. Lepka sah sie kommen und sagte, es müsse hier in der Nähe wohl eine Pforte zu einem der verborgenen Länder geben. Zuerst haben wir das nicht verstanden, aber dann hat auch Winslow die beiden auf einem der Ziegenpfade entdeckt. Lokesh ging voran und drehte sich immer wieder um, als müsse er ihm ständig gut zureden, wie einem wilden Tier, das gezähmt werden soll.«
Sie schaute zurück zu den versteckten Kammern.
Shan stand auf. Er war völlig verwirrt.
»Es ist ein Geist«, sagte Nyma. »Es muß ein Geist sein, der hergekommen ist, um uns zu retten.«
Shan lief los, stolperte, fiel auf ein Knie, rappelte sich hoch und rannte weiter. Die Hauptkammer glich einem Tempel. Es herrschte ehrfürchtiges Schweigen, und Weihrauchschwaden hingen in der Luft. Lhandro und seine Eltern saßen aufgeregt und mit großen Augen vor der Wand. Die Mutter des rongpa wiegte sich vor und zurück, während Lhandro und Lepka ihre malas durch die Finger gleiten ließen und stumme Gebete sprachen. Winslow hatte sich in die dunkelste Ecke zurückgezogen und sah auf seltsame Weise verblüfft und freudig aus.
Am Fußende der Bettstatt hockte Lokesh, und an einer Seite hielt Anya immer noch die Hand des Obersts. Gegenüber dem Mädchen saß ein greiser Tibeter, der sogar noch älter als Lhandros Vater war, strich mit einer Hand über Lins Stirn und lauschte mit der anderen am Handgelenk dem Puls. Er wirkte zerbrechlich und stark zugleich, war schmal wie ein Schilfrohr und strahlte doch Kraft und Ruhe aus. Bekleidet war er mit einer verschlissenen Arbeiterjacke über einer ebenso abgewetzten kastanienbraunen Robe, und an den Füßen trug er alte schwarze Sportschuhe, die beinahe auseinanderfielen. Neben ihm an der Wand lehnte ein robuster Stab.
Lokesh stieß ein leises krächzendes Geräusch aus, als er Shan sah, streckte dann die Arme aus und umschloß mit festem Griff Shans Hand, um sie wieder und wieder zu drücken. Der alte Tibeter schien vor lauter Verzückung fast außer sich zu geraten. »Es ist Jokar Rinpoche!« sagte Lokesh, als er schließlich seine Stimme wiederfand. »Aus Rapjung«, fügte er hinzu, als würden aus der Klosterruine noch immer regelmäßig alte Heiler ausgesandt. »Von früher. Derselbe Jokar«, flüsterte er, als könne jemand auf den Gedanken verfallen, es handle sich um eine andere Inkarnation des Lama.
Es war der Lama-Heiler, jene geisterhafte Erscheinung, die sie auf der Kräuterwiese gesehen hatten, der Mann, durch den Chemi geheilt worden war. Shan hatte sich mühsam dazu gebracht, an die Existenz dieses Lama zu glauben, obwohl es höchst unwahrscheinlich schien, daß ein solcher Mann in den Bergen umherstreifte - das leibhaftige Überbleibsel einer anderen Welt, nicht etwa ein Gott, Dämon oder Gespenst. Doch in diesem Moment, als Jokar sich umdrehte und seinen Arm nach Shan ausstreckte, kam es ihm aus einem unerfindlichen Grund so vor, als würde sein Vater nach ihm greifen, und als der Lama Shans Hand nahm, entrang sich diesem lediglich ein hilfloses Keuchen.
»Lha gyal lo« , sagte Jokar sanft und lächelte vertraut, bevor er sich wieder seinem Patienten zuwandte.
Schweigend sahen sie dem Lama bei der Arbeit zu. Weihrauch erfüllte den Raum, und der Wind strich heulend um die Felsen über ihren Köpfen. Lepka stimmte ein leises Lied an. Die purbas standen wachsam im Schatten, doch ihre Mienen konnten die Verwirrung nicht verbergen.
Shan erhob sich und wich ins Halbdunkel zurück. Im flackernden Licht sah er Winslow in der Ecke noch immer grinsen. In der nächstgelegenen Zelle saß Tenzin allein für sich und in tiefer Meditation versunken. Shan setzte sich und beobachtete den Lama und Lokesh, dessen Gesicht auch weiterhin vor Staunen erglühte und bei dem sich die Ehrfurcht mit dem Eifer eines jungen Schülers mischte.
Shan wußte, daß alle im Raum die losgelöste, jenseitige Natur dieses Augenblicks auf gleiche Weise empfanden. Es war tatsächlich, als wäre Jokar wie durch Zauberei aus einer anderen Welt aufgetaucht, weil er hier gebraucht wurde - nur um nach dem Besuch wieder zu den Göttern aufzusteigen. Einen Mann wie den Lama hatte Shan noch nie zuvor gesehen - uralt und zugleich zeitlos. Als der Lama
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