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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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blickte dabei dem sonderbaren Paar hinterher, das weiter bergauf stieg.
    »Gyalo?«
    »Lokesh. Wir haben uns gestern auf dem Pfad unterhalten. Er wollte alles mögliche über Peking wissen. Zum Beispiel hatte er gehört, daß es dort Lichter gibt, die dir verraten, wann du weitergehen darfst, und so mußte ich ihm erklären, was eine Ampel ist. Er sagte, er würde in ein paar Monaten in die Stadt kommen, und hat mich gefragt, ob er bei mir auf dem Boden schlafen dürfe. Außerdem hat er mich gebeten, ihm einen Plan zu zeichnen, der ihm den Weg zum Haus des Vorsitzenden beschreibt.«
    Shan verzog das Gesicht. »Lokesh begreift es nicht.«
    »Nein«, stimmte Winslow ihm zu. »Aber er hat gesagt, er folge nur seinem inneren Gott.«
    Der Amerikaner musterte Shans gequälte Miene. »Ich werde so gut wie möglich auf ihn aufpassen«, versprach er und bog auf den Pfad ein, der zurück zum Mischsims führte.
    Als sie ankamen, saßen Anya und Tenzin bei Lin. Das Mädchen hielt dem Oberst erneut die Hand, und der Tibeter wischte ihm mit einem feuchten Lappen die Stirn ab. Zu Shans Überraschung bewegte Lin den Kopf und öffnete immer wieder kurz die Augen. »Das ist alles«, flüsterte Anya. »Er spricht nicht und scheint nichts um sich herum wahrzunehmen. Ich bin mir nicht sicher, wo er sich befindet. Vielleicht kommt er nie wieder zu Bewußtsein.«
    Doch plötzlich riß Lin die Augen auf. »Du!« stöhnte er, machte sich mit einem Ruck von Anya los, packte Tenzin am Hals und zog ihn zu sich herunter. Seltsamerweise leistete der Tibeter keinen Widerstand, obwohl der Oberst ihm eindeutig weh tat. Im nächsten Moment und wiederum ohne jede Vorwarnung verdrehte Lin die Augen. Seine Hand erschlaffte und sank ihm auf die Brust.
    »Er hat böse Träume«, sagte Anya in merkwürdig entschuldigendem Tonfall zu Tenzin.
    Der Tibeter sah sie nur ausdruckslos an und wischte Lin von neuem die Stirn ab. Als Anya wenig später aufstand, um frisches Wasser zu holen, kniete Shan sich neben den Oberst und durchsuchte die Taschen seiner Uniform. Lhandros Papiere fand er nicht, doch in einer der Brusttaschen steckte ein gefaltetes Foto, das Shan zur Tür mitnahm, um es im Sonnenlicht genauer zu untersuchen.
    Es war eine grobkörnige und verschwommene Schwarzweißaufnahme, vermutlich das Bild einer Überwachungskamera. Darauf waren zwei Männer in einem Büroflur zu sehen. Sie trugen lange Hausmeisterkittel und hielten Eimer und Schrubber in den Händen. Die Aufnahme zeigte sie von hinten, aber der größere und ältere der beiden hatte den Kopf leicht gedreht, um einen Blick über die Schulter zu werfen. Sein Begleiter war nicht klar zu erkennen, doch es konnte sich durchaus um Drakte handeln. Bei diesem zweiten Mann war kein Irrtum möglich. Es war Tenzin. Und in einem der Eimer, vermutete Shan, lag das Auge von Yapchi.
    »Es ist etwas passiert«, erklang hinter ihm Winslows beunruhigte Stimme. Der Amerikaner holte sein Fernglas aus der Schutzhülle. Neben ihm tauchte Nyma auf.
    »Lokesh«, rief sie. »Lokesh ist fort.«
    Er sei kurz nach Shan und Winslow aufgebrochen und auf dem schmalen Ziegenpfad nach unten gestiegen, erklärte Nyma. Mitgenommen habe er lediglich etwas kalten tsampa und eine Wasserflasche. Und er habe die ganze Zeit geredet, als würde er mit Leuten sprechen, die niemand außer ihm sehen konnte. Shan lief hinaus auf das Plateau und nahm ebenfalls sein Fernglas zur Hand. Er entdeckte ein halbes Dutzend Pfade sowie mehrere langgestreckte, sanft ansteigende Hänge, die zu Fuß ohne weiteres passierbar waren. Eine Stunde lang suchten er und Winslow jeden Pfad und jeden flachen Felsen ab, auf dem jemand sich möglicherweise zur Meditation niederlassen würde. Shan lief den Weg hinunter, auf dem man Lokesh zuletzt gesehen hatte, und rief immer wieder seinen Namen, doch sein alter Freund blieb spurlos verschwunden. Lins Soldaten kannten Lokeshs Gesicht. Falls die Männer des Obersts ihn zu fassen bekamen, würden sie weder Geduld mit ihm haben noch ihn auch nur den Kriechern überlassen. Statt dessen würden sie sofort drastische Maßnahmen ergreifen, um durch jedes erdenkliche Mittel den Verbleib ihres vorgesetzten Offiziers zu klären.
    Shan ließ sich auf einen Felsen sinken und kämpfte gegen das dunkle Etwas an, das sich um sein Herz zu legen schien. Vom Plateau aus sah er die Sonne hinter der fernen Changtang verschwinden. Plötzlich berührte ihn jemand, und sein Kopf ruckte hoch.
    Er mußte eingeschlafen sein. Die Farben am

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