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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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gefundene religiöse Gegenstände an die Volksregierung auszuhändigen.
    Der Flur führte zu einem dunklen Korridor, der sich über die gesamte Länge des Gebäudes erstreckte und von dem auf beiden Seiten zahlreiche Türen abzweigten. Direkt gegenüber von ihnen lag das Krankenzimmer, wie die chinesische und englische Aufschrift verriet. Auf der anderen Seite stand ein Stück weiter eine Doppeltür offen, durch die rotes Licht hinausfiel, das im Takt der Musik flackerte. Der Lärm war ohrenbetäubend. Mit einer gespielten Verbeugung forderte Winslow die anderen zum Eintreten auf. Somo blickte befangen zu Boden, und Shan sah, daß sie den türkisfarbenen Stein umklammert hielt, ihr Erinnerungsstück an Drakte.
    Der Raum war zum Bersten mit Menschen gefüllt, von denen kaum jemand auf sie achtete, als sie sich zu einem freien Tisch im hinteren Teil des Saals schoben. An einem Ende befand sich eine Theke aus Holz, hinter der zwei Männer vor einem großen Regal standen, das Flaschenbier und Hochprozentiges enthielt - nicht nur die chinesischen Standardmarken, sondern auch westliche Whiskeys, russischen Wodka, französischen Kognak, britischen Gin und besonders auffällig plaziert eine Flasche hejie jiu , Echsenwein aus Guangxi, einschließlich der darin eingelegten toten Eidechse. Männer und Frauen, viele davon in grünen Jacken, bestellten eifrig immer neue Drinks. Auf einem Podest in einer der Ecken hatte man einen großen Apparat installiert, dessen Bildschirm Videoaufnahmen von Frauen auf einer Blumenwiese zeigte. Am unteren Rand zog eine englische Laufschrift vorbei, über deren Worten eine kleine Kugel hüpfte. Dicht vor dem Schirm stand ein stämmiger Han-Chinese mit violettem Seidenhemd, sang in ein Mikrofon, wiegte sich im Rhythmus und starrte angestrengt, geradezu erwartungsvoll auf die Bilder, als wolle er jeden Moment zu den Frauen auf die Wiese springen. Vor dem Podest hatte sich eine kleine Zuschauerschar versammelt; manche der Leute spotteten, andere ermutigten den Mann.
    Zwei der Wände hingen voller Plakate, auf denen gutaussehende Männer und Frauen sowie Abbildungen asiatischer Kampfsportszenen, Bergpanoramen, schnittige Autos oder weitere Menschen in spärlicher Badekleidung zu sehen waren. Die englischen, chinesischen oder französischen Bildunterschriften bezogen sich, so vermutete Shan, auf Kinofilme. Er erinnerte sich vage, daß auch er einmal ins Kino gegangen war.
    Am anderen Ende des Raums standen zwei verschlissene Sofas und ein Dutzend hoher Barhocker im gedämpften Licht. Auf den Hockern saßen mehrere junge Frauen in knappen Kleidern und hohen bunten Vinylstiefeln. Sie waren alle stark geschminkt und aufwendig frisiert. An einem Tisch in der Nähe des Podests hatten mehrere Westler Platz genommen. Vier von ihnen rauchten Zigarren, und einer hielt das Kinn auf die Handflächen gestützt, als würde er schlafen. Bei den Westlern saß ein gepflegter Han mittleren Alters. Er trug ein blaues Anzughemd und beobachtete den Mann auf der kleinen Bühne mit unbehaglichem Lächeln.
    »Mai xiao nu« , stellte Winslow erstaunt fest, als sie sich setzten, und starrte dabei die auffällig gekleideten Frauen an. In direkter Übersetzung hieß das »Frauen, die ein Lächeln verkaufen«.
    Als Somo errötete, zuckte er entschuldigend die Achseln und sagte, er würde ihnen etwas zu trinken besorgen. Dann drängte er sich durch die Menge zur Bar. Somo sah Shan an und biß sich auf die Unterlippe. Einen Moment später stand sie auf, ging auf den Chinesen zu, der bei den Westlern saß, und beugte sich kurz zu ihm herab. Er hob sichtlich erleichtert den Kopf, verabschiedete sich schnell von seinen Begleitern und ging mit Somo zur Tür. Dort unterhielten sie sich eine knappe Minute, und dann folgte Somo nach einem besorgten Blick zu Shan dem Mann den Korridor hinunter.
    Shan betrachtete die merkwürdige Ansammlung von Leuten im Saal. Der Tabakqualm brannte ihm in den Augen. Ein Mann am Nebentisch rülpste mehrmals hintereinander, was von seinen Kameraden mit lautem Gejohle begrüßt wurde. Die ganze Zeit hatte Shan das Gefühl, beobachtet zu werden. Wie hatte Jenkins die Operationszentrale genannt? Hölle auf Rädern.
    Gleich darauf kam Winslow mit drei chinesisch beschrifteten roten Dosen amerikanischer Limonade zurück und harrte mit Shan nervös zehn Minuten aus, bis Somo und der Mann im blauen Hemd wieder auftauchten. Der Chinese reichte Shan und Somo jeweils einen Schlüsselring, dessen kleines

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