Das tibetische Orakel
Gebäudes verlief eine Laderampe, an der mehrere Transporter beladen wurden. Sie stiegen auf die Rampe, doch als Winslow das Lagerhaus ansteuern wollte, legte Shan ihm eine Hand auf den Arm. »Vielleicht sollten wir eine Weile nur zusehen«, sagte er.
»Warum?« fragte Winslow und sah sich dabei nervös um.
Shan beobachtete die Männer, die den Ladevorgang beaufsichtigten. »Zu Beginn meiner Laufbahn in Peking habe ich mit einem alten Ermittler zusammengearbeitet. Von ihm habe ich gelernt, mich nicht zu sehr an das zu klammern, was man mir während meiner Ausbildung beigebracht hat. Der einfachste Teil des Jobs ist es, Leute ausfindig zu machen, denen man Fragen stellen kann. Die Herausforderung liegt darin, den Menschen mehr zu entlocken, als man eigentlich wissen wollte, denn wenn man weiß, was man fragen muß, kennt man bereits die halbe Antwort. Er sagte, in jeder Situation gebe es eine bestimmte Sache, mit der man jemanden zum Reden bringen könne, irgendeinen grundlegenden Ansatz, der zwar nicht die Wahrheit, aber den Schlüssel dazu darstelle.«
»Klingt wie das Zen der Verhörkunst«, spottete Winslow und ließ die Arbeiter nicht aus den Augen. Shan bat ihn, einen Moment zu warten, und schob sich in den Schatten eines der hohen Stapel Kisten, die überall herumstanden.
Einige Minuten darauf betraten sie gemeinsam das Lagerhaus. Shan hielt ein Klemmbrett voller Papiere in der Hand, und Winslow trug eine alte grüne Baseballmütze, auf der ein Bohrturm abgebildet war.
Ungefähr in der Mitte der riesigen Halle blieben sie stehen. Winslow stemmte die Hände in die Seiten und schaute ungeduldig drein. In seinem Mundwinkel hing eine nicht angezündete Zigarre. Shan erweckte einen eher genervten Eindruck. Es dauerte keine Minute, da lief ihnen ein Chinese mit schütterem Haar entgegen. Sein blaues Hemd schien der Einheitsdreß der Verwaltungsmitarbeiter zu sein. Shan hatte den Mann aus dem Hintergrund beobachtet und mitbekommen, wie beflissen er drei Westlern zu Hilfe geeilt war und dafür alles andere ignoriert hatte, sogar seinen Vorgesetzten, den Verwaltungsleiter, den Shan noch von letzter Nacht kannte.
»Mit den Unterlagen der Außenteams von Yapchi ist irgendwas nicht in Ordnung«, seufzte Shan und warf Winslow dabei einen langen verärgerten Blick zu. Die Aufgabe des Amerikaners würde darin bestehen, kein Wort zu sagen, wütend zu wirken und nicht erkennen zu lassen, daß er Mandarin verstand.
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, behauptete der Chinese und musterte Winslow nervös. Er trug ebenfalls eine amerikanisch anmutende Baseballmütze, allerdings in Schwarz und mit einem orangefarbenen Vogel auf der Vorderseite. Shan fühlte sich ein wenig schuldig, eine dermaßen offensichtliche Schwäche auszunutzen, aber die meisten chinesischen Projektmitarbeiter schienen regelrecht versessen darauf zu sein, sich bei den Ausländern anzubiedern, wahrscheinlich weil sie auf Fürsprache bei der Einwanderungsbehörde hofften.
»Ich habe ihm zu erklären versucht, wie kompliziert die Abläufe sind«, sagte Shan. »Die vielen Lieferungen. Die empfindlichen Ausrüstungsgegenstände, die manchmal ohne Umweg über die Zentrale ins Lager kommen. Und mitunter werden Kisten mit Nahrungsmitteln und Geräten versehentlich vertauscht.«
Der Lagerverwalter nahm Winslow vorsichtig in Augenschein. Der Amerikaner rang sich ein ungeduldiges Grinsen ab und starrte dann wieder zornig Shan an.
Shan wich einen Schritt zurück, als rechne er mit Handgreiflichkeiten. »Bitte«, sagte er beschwörend. »Der Mann war schon in Yapchi. Er hat von da Unterlagen mitgebracht. Er ist Amerikaner.«
Nervös führte der Chinese sie zu einem Computer, der in einer Ecke des Lagerhauses stand, und rief ein Verzeichnis auf, dessen Überschrift »Bestandsliste Yapchi« lautete. Mit zufriedenem Lächeln sah Shan auf den Bildschirm. Die Ölfirma war genauso bürokratisch wie die Armee.
Der Mann betätigte noch ein paar Tasten und rief den Unterpunkt »Außenteams« auf. »Die haben alle die gleiche Ausstattung«, sagte er und deutete auf eine Spalte im linken Teil der Anzeige. »Team Eins«, stand dort. »Wasserflasche, Metall; zwölf«, lautete der oberste Eintrag. »Zelt, vier Personen; eins. Schlafsack; vier. Kocher, Butan; eins. Gaspatrone; acht. Ration; sechzig.«
Shan überflog den Rest der Liste. Seile, Äxte, Gesteinshämmer, seismische Sprengladungen. Die Viermann-Teams waren für fünf Tage im Gelände ausgerüstet. »Sagen Sie
Weitere Kostenlose Bücher