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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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einer chinesischen Zeitung, die am Tischrand lag. Sie stammte vom Vortag. Schnell überflog er die Schlagzeilen. Die Behörden befanden sich dicht auf den Fersen des verhaßten Tigers, der als der Mörder eines Beamten des Büros für Religiöse Angelegenheiten galt. Für sachdienliche Hinweise aus Kreisen der Bevölkerung hatte man eine hohe Belohnung ausgesetzt. Ein anderer Artikel führte aus, daß im Zuge des Kampfes gegen die reaktionären Elemente auch nach dem Abt von Sangchi gesucht wurde, der im Auftrag des Tigers entführt worden sei und dem Dalai-Kult ausgeliefert werden solle.
    »Es sind hauptsächlich Europäer«, sagte Winslow leise auf tibetisch. »Keiner von denen ist länger als eine Woche hier. Alle wurden von anderen Projekten abgezogen und sollen neuen Standorten zugewiesen werden.«
    Shan betrachtete die Leute am Tisch. Sie schienen Winslow geflissentlich zu ignorieren.
    »Sie haben mir erzählt, daß von allen ausländischen Partnern des Projekts bisher nur die Amerikaner unangenehm aufgefallen seien.«
    »Wegen Ihrer Fragen nach Miss Larkin?«
    »Nein. Es ging um Umweltschutz. Vor einem Monat war jemand von unserer Botschaft da und hat behauptet, die Firma würde die Schäden für die Umwelt nicht richtig einschätzen. Diese Ingenieure hier sagen, das Projekt könne auch ohne die amerikanischen Investitionen fortgeführt werden, falls wir nicht aufpassen. Es gäbe auch anderswo jede Menge Kapital zu holen, ohne hinderliche Auflagen.«
    Der Mann gegenüber von Winslow schob seinen Stuhl zurück und nahm sein Tablett. »Wenn wir das nächste Mal dinieren, hole ich vorher meinen Smoking aus der Reinigung, Herr Botschafter«, sagte er auf englisch und neigte übertrieben galant den Kopf. Er musterte kurz Shan und wandte sich wieder an Winslow. »Laß dich bloß nicht beschwatzen.«
    Es klang beinahe entschuldigend. »Hör einem von ihnen zu, und schon hängen hundert an deinem Rockzipfel. Jeder will, daß wir ihm dabei helfen, ein Visum für die Staaten zu bekommen.«
    »Ich habe noch nie vorgehabt, das Arbeiterparadies zu verlassen«, sagte Shan langsam auf englisch und sah den Mann ruhig an.
    Der Fremde erwiderte verunsichert den Blick und setzte schließlich ein breites Grinsen auf. Er schaute von Shan zu einem Tisch in der gegenüberliegenden Ecke des Saals, bevor er auch Winslow mit einem Lächeln bedachte. »Zum Glück hat Genosse Zhu seine Leute auf die Sache angesetzt«, sagte er und ging weg.
    Winslow und Shan sahen sich erschrocken an, und Shan ließ unwillkürlich den Blick durch den Speisesaal schweifen. Die Arbeiter drängten mittlerweile in Scharen hinaus. Mehrere der Bediensteten schoben die Rollwagen mit den Speisen durch eine Doppeltür, während andere anfingen, die Tische mit Lappen abzuwischen. In der Nähe eines Durchgangs zum Innern der Operationszentrale lehnte ein schlanker Mann, der eine modische braune Nylonjacke trug. Er sah mehrfach in ihre Richtung und sprach in ein kleines Funkgerät. Shan erhob sich ein Stück, um einen Blick auf die Ecke zu werfen, in die der Amerikaner geschaut hatte. Am gesamten Tisch saßen ausschließlich Männer und Frauen in braunen Jacken. Mit plötzlichem Entsetzen erkannte er den eleganten Mann am Ende des Tisches, der gestenreich redete, während die anderen ihm lauschten. Zhu, der Direktor für Sonderprojekte.
    Shan duckte sich und berichtete Winslow von seiner Entdeckung. Der Amerikaner fluchte leise. »Eines ist mir nicht ganz klar«, sagte Shan leise. »Aus welchem Grund sollte Larkin herkommen, um Zugriff auf den Computer zu nehmen? Wieso hat sie das nicht von Yapchi aus erledigt?«
    Winslow zuckte die Achseln. »Vielleicht sollte es niemand merken. Oder wegen der besseren InternetVerbindung. Da draußen gibt's bloß dieses kleine Satellitentelefon. Oder sie war aus einem völlig anderen Anlaß hier und hat dabei auch nach ihren E-Mails gesehen.«
    »Aber sie ist heimlich hergekommen, während sie eigentlich einen Forschungseinsatz durchführen sollte. Mit Hin- und Rückweg bedeutet das eine Reise von zwei Tagen. Es war ihr also wichtig. Was gibt es hier sonst noch? Welche Funktionen erfüllt diese Zentrale?«
    Wie zur Antwort fuhr vor den Fenstern des Speisesaals ein schwerer Sattelschlepper vorbei. Die Ladung wurde von Planen verdeckt.
    Eine Viertelstunde später standen sie hinter dem Gebäude, das gegenüber der Operationszentrale lag. In zehn riesigen Werkstatthallen wurden schwere Lastwagen repariert. Vor einem anderen Teil des

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