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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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dieses Werkzeugs unterwiesen hatte. Dann nahm er den chakpa langsam von Somo entgegen, betrachtete ihn eingehend und verblüfft und sah schließlich hinein. Im Innern steckte ein kleines Stück Papier. Shan holte es mit einem Finger heraus. Es stand ein einzelner Satz darauf. »Drakte hat die Gottheit in einer Decke getragen«, las Shan den beiden Gefährten vor, »aber er lernte sie auszuwickeln.«
    Somos Blick schien ihn um Verzeihung zu bitten, als sei sie der Ansicht, ihn mit einer sinnlosen Botschaft behelligt zu haben.
    »Das Auge war in ein kleines Stück Filz gewickelt«, erklärte Winslow.
    Shan sagte nichts, sondern las den Zettel ein weiteres Mal. Somo nickte dem Amerikaner unschlüssig zu und schaute erneut zu den Bergen, die hinter ihnen immer kleiner wurden.
    »Und was haben Sie jetzt vor?« fragte Shan sie einige Minuten später.
    Somo wandte den Blick nicht von den Bergen ab. »Als ich vor drei Wochen aus Lhasa aufgebrochen bin, hat Drakte zu mir gesagt, wir würden damit einem Chinesen helfen, der nach Norden ziehe, um dort die Tibeter zu unterstützen. Da wußte ich noch nichts von dem Abt, nur von dem Auge.«
    Sie hielt inne und musterte Shan verwirrt. »Der Abt und das Auge der Gottheit waren in gewisser Weise dasselbe.«
    Shan nickte. »Die Beteiligung der purbas bei der Rückführung des Auges geschah nur zu Tarnung, um Tenzin insgeheim nach Norden zu bringen. Wer würde schon bei einer Salzkarawane nach ihm suchen?«
    Er sah der Frau ins Gesicht und wußte, daß sie beide in diesem Moment das gleiche dachten. Drakte war gestorben, um sie zu warnen und Tenzin zu schützen. Somo würde Tenzin nicht im Stich lassen.
    »Wenn wir in Golmud sind, gehe ich sofort zum Computer, egal, wie spät es ist«, verkündete Somo. »Ich werde aus Tenzin trotzdem einen Angestellten machen, und zwar unter dem falschen Namen, den wir uns ausgedacht haben.«
    »Aber er ist weg«, sagte Winslow.
    »Es ist immer noch mein Auftrag.«
    Somo klang gedankenverloren. »Und was auch geschehen mag - wenn es vorbei ist, werde ich Draktes Mörder suchen.«
    »Ich glaube«, sagte Winslow und sah dabei erst Shan und dann Somo an, »es ist nicht vorbei, bis Sie den Täter gefunden haben.«
    Schweigend beobachteten sie die vorüberziehende Landschaft.
    »Sie kommen an die Datensätze heran?« fragte Wins- low nach einer Weile.
    »An der Universität hat man viel Wert darauf gelegt, daß ich eine gründliche Computerschulung bekam, bevor ich zurückgeschickt wurde, um tibetische Kinder zu unterrichten. Mit Kreide und Schiefertafel.«
    Winslow erzählte ihr von Melissa Larkin. Dann unterhielten sie sich eine Stunde lang über die verschiedenen Rätsel, die alle im Tal von Yapchi zusammenliefen.
    »Hat Drakte das Mordopfer, diesen Chao, gekannt?« fragte Shan. Aus irgendeinem Grund war ihm klar, wie die Antwort lauten würde.
    »Ja«, entgegnete Somo sogleich. »Er war Tibeter. Viele Leute wissen das nicht, weil er diesen anderen Namen angenommen hatte.«
    »Und Sie haben ihn auch gekannt?«
    »Vor einem Monat wollten Drakte und ich gemeinsam zwei Tage am Lamtso verbringen. Wir hatten darüber gesprochen, eine Familie zu gründen«, sagte sie dermaßen sachlich, daß Shan verlegen den Blick abwandte. Somo hielt inne und starrte ins Leere. »Aber statt dessen hat er mich gebeten, ihn nach Amdo zu begleiten, weil er dort einen alten Freund gefunden hatte, mit dem wir uns treffen müßten. Er sagte, wir würden noch genug Gelegenheiten haben, zum Lamtso zu reisen.«
    Man hörte ihr die Anspannung an. »Wir haben uns in einem alten Stall getroffen, der heute als Garage genutzt wird, und dort auf einer Bank gesessen und mit seinem Freund kalte Klöße gegessen. Die beiden kannten sich seit frühester Kindheit; allerdings trug Draktes Freund damals einen anderen Namen. Ich saß zwischen den beiden, wie eine Schiedsrichterin.«
    »Was hat Chao gemacht? Wie hat er sich verhalten?«
    War alles nur eine Falle gewesen, um Drakte zu fangen? dachte Shan.
    »Er hatte Angst. Er fragte, ob Drakte Direktor Tuan kennen würde, es klang wie eine Warnung. Doch Drakte hat nur gelacht. Sie haben über keine geheimen Dinge gesprochen, sondern sich die ganze Zeit über das Leben auf der Changtang und Ereignisse aus ihrer Jugend unterhalten. Es war ein Treffen zweier alter Freunde, mehr nicht. Chao hat Drakte zum Abschied umarmt und gesagt, es tue ihm leid.«
    »Was genau tat ihm leid?«
    »Nichts Bestimmtes.«
    »Hatte Drakte dieses Geschäftsbuch dabei?«

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