Das tibetische Orakel
Plastikschild mit einem lateinischen Buchstaben und einer Nummer versehen war. Dann stellte er sich dem Amerikaner als Verwaltungsleiter vor und erklärte, Winslow würde in einem Quartier für besondere Gäste untergebracht. Shan und Winslow tauschten einen beunruhigten Blick aus. Man trennte sie voneinander. Der Amerikaner runzelte die Stirn, aber als der Manager sich umdrehte und zur Tür deutete, stand er auf und folgte dem Mann. »Morgen früh«, raunte er seinen Gefährten zu und ging mit dem Chinesen hinaus.
»Die Zimmer der weiblichen Belegschaft liegen in einem abgesonderten Bereich«, verkündete Somo ungehalten, trank ihre Limonade aus und steckte den Schlüssel ein.
»Ich werde im Lastwagen schlafen«, sagte Shan.
»Nein«, wandte Somo ein. »Der Wagen könnte wieder wegfahren, vielleicht sogar zu irgendeinem der anderen Lager. Und auf dem Gang habe ich eine Patrouille gesehen. Keine Polizei oder Soldaten, bloß Männer mit braunen Jacken. Aber falls man Sie ohne Firmenausweis antrifft, wird man Sie sofort nach Golmud bringen. Man hat hier Probleme mit Dieben, die nachts ins Lager eindringen.«
Fünf Minuten später ging Shan zwischen den dunklen Wohnanhängern entlang. Am Ende jeder Reihe befand sich ein schwach erleuchtetes Schild mit einem Buchstaben, und auf jede Tür war eine große Zahl aufgemalt. Er entdeckte das Quartier, das man ihm zugewiesen hatte, schloß die Tür auf, trat ein und fand sich zwischen zwei langen Reihen metallener Etagenbetten wieder, die zur Hälfte von Schlafenden belegt waren. An einem Ende saßen zwei Männer auf einer der Kojen und spielten im Schein einer Taschenlampe Mah-Jongg. Shan ging in die andere Richtung und fand ein leeres Bett. Er schlief ein, kaum daß sein Kopf das Kissen berührt hatte.
Nur wenige Augenblicke später, so schien es ihm, rüttelte jemand an seinem Fuß. Shan schreckte hoch und mußte sofort an Somos Warnung vor den Patrouillen denken. Durch die kleinen Fenster des Wohnanhängers fiel Sonnenlicht herein.
»Es gibt nur noch zehn Minuten Frühstück, Kumpel«, sagte ein junger Chinese, der neben der Koje stand, und entschuldigte sich gleich darauf, als er Shans nervöse Reaktion sah. »Falls du heute den ganzen Tag vor der Arbeitsvermittlung Schlange stehen mußt, wirst du erst abends wieder was zu essen kriegen.«
Der Mann musterte ihn unsicher und strich sich über den schmalen Schnurrbart.
Shan bedankte sich und folgte ihm nach draußen. Vorsichtig spähte er den langen Gang zwischen den Anhängerreihen entlang und schloß erst dann zu dem Chinesen auf.
»Ich habe bei der Zentrale einen Laster gesehen«, sagte der junge Han. »Du mußt gestern ziemlich spät hier angekommen sein. Aus Tsaidam?« fragte er und bezog sich damit auf das riesige Ölfeld im Westen der Provinz Qinghai, eines der bekanntesten von ganz China.
»Nein, aus Yapchi«, erwiderte Shan.
Der Mann wirkte überrascht. »Du hast darum gebeten, aus Yapchi versetzt zu werden? Bist du bescheuert? Ich hab gehört, daß da dicke Prämien winken. Von den Amerikanern.«
Er grinste. »Ich mag die Amerikaner. Hamburger. Las Vegas.«
Sie gingen zu demselben großen Gebäude, das Shan und seine Freunde letzte Nacht aufgesucht hatten, traten jedoch durch eine Tür am anderen Ende ein und gelangten in einen großen Speisesaal. In der feuchten Luft hingen die verschiedensten Gerüche: Kohl in Essig. Speck. Käse. Schwarzer Pfeffer. Zigarettenrauch. Eier. Starker schwarzer Tee. Gebratener Reis. Kaffee. Marinierter Fisch.
Shan schlenderte im Saal umher, bis er Winslow entdeckte. Der Amerikaner saß mit mehr als einem Dutzend Westler an einem langen Tisch. Aus einem großen schwarzen Kasten dröhnte laute Musik. Ein junger Mann mit Pferde sch wanz trommelte den Rhythmus mit zwei Löffeln auf seinem Plastikteller. Daneben saß eine Frau mit kurzem dunkelbraunem Haar und spielte Solitär. Drei weitere Männer, darunter zwei, die Shan am Vorabend neben dem Podest gesehen hatte, saßen über eine große Landkarte gebeugt da. Einer hielt einen Becher Kaffee in der Hand, ein anderer eine dicke Zigarre.
Shan setzte sich neben Winslow, der leise berichtete, daß er Somo noch nicht gesehen habe. Der Amerikaner wies auf die Warteschlange der Arbeiter am Rand des Saals, wo Küchenbedienstete mit weißen Schürzen hinter dampfenden Metallbehältern standen. Shan schüttelte den Kopf, und Winslow reichte ihm eine Scheibe kalten Toast von seinem eigenen Teller. Shan nahm das Brot und griff nach
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