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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Laster mußte sich laut hupend an immer mehr Radfahrern vorbeischlängeln. Sie sahen schmutziggraue Gebäude und Fabrikschlote, die dunklen Rauch ausstießen. Shan war aufgestanden, hielt sich an den Streben der Ladefläche fest und starrte hinaus. So war China zumindest das China, das Hunderte von Millionen Chinesen kannten.
    »Ein erbärmliches Pflaster, dieses Golmud«, stellte Winslow fest.
    Shan sagte nichts. Es mochte erbärmlich sein, aber er hatte sich seit mehr als fünf Jahren nicht mehr so sehr an seine frühere Heimat erinnert gefühlt. Außer dem Qualm der Fabriken hingen noch andere vertraute Gerüche in der Luft. Sesamöl, Chilischoten, Koriander, gebratenes Schweinefleisch und Ingwer. Eine Radfahrerin kam vorbei; über ihrer Schulter lag ein Bambusrohr, auf dem vier geröstete Enten steckten. In Gegenrichtung fuhr ein Mann, der auf der Lenkstange einen langen zusammengerollten Teppich balancierte. Auf einer Bank saß eine alte Frau vor einer Pfanne; darin lagen kleine Spieße mit gebratenen Holzäpfeln. Einen Augenblick lang fühlte Shan sich versucht, einfach neben ihr Platz zu nehmen und die Mischung aus Dieselgestank und Gewürzen einzuatmen, den Geruch des modernen China.
    Sie verließen die Stadt und erreichten nach einer Weile einen hohen Metallmast, an dem ein strahlendheller Scheinwerfer hing. Dort bogen sie auf eine Schotter straße ein, die breit genug für vier Lastwagen gewesen wäre. Rechts der Strecke standen Dutzende von Fahrzeugen geparkt: Kipper, Bulldozer, Schlepper, Anhänger und Zementmischer. Alle dreißig Meter erhob sich ein weiterer Scheinwerfermast. Dann gelangten sie zu einer Fläche, auf der in ordentlichen Reihen Wohnanhänger standen - eine regelrechte kleine Stadt.
    Der Lastwagen wurde langsamer. Shan streckte kurz den Kopf heraus, um in Fahrtrichtung zu schauen. Vor ihnen lag ein großer Schotterplatz mit gewaltigen Ziegelgebäuden auf jeder Seite.
    Sie hielten schließlich an. Der Fahrer klopfte laut gegen das Rückfenster seiner Kabine, ging ohne ein weiteres Wort weg und reckte sich ausgiebig. Vorsichtig stiegen sie ab und nahmen das Gelände in Augenschein. Shan machte ein paar zögernde Schritte auf das einzige Gebäude zu, dessen Fenster erleuchtet waren. Der Kies knirschte laut unter seinen Stiefeln. Es war ein Uhr morgens.
    Der trübe orangefarbene Schimmer der Schwefellampen und der aufgehende halbrunde Mond verliehen dem riesigen Komplex die Aura einer schmucklosen Tempelanlage. Ein seltsames Vibrieren hing in der Luft, ein Hämmern wie von fernen Trommeln. Dann öffnete sich plötzlich eine Tür des nächstgelegenen Gebäudes, und laute Rockmusik dröhnte über den Hof. Zwei Männer torkelten in die Nacht hinaus und mußten einander stützen, um auf den Beinen zu bleiben. Sie winkten den Neuankömmlingen zu und schwankten in Richtung der Wohnanhänger davon.
    Shan hielt inne und ergründete das seltsame, unerwartete Gefühl, das in ihm aufstieg. Er kam sich vor, als habe er eine andere, seit vielen Jahren verloren geglaubte Welt betreten. Wann hatte er das letzte Mal Betrunkene gesehen, westliche Musik gehört oder des Nachts unter solchen Straßenlaternen gestanden?
    Winslow klopfte ihm auf die Schulter, als fürchte er, Shan sei im Stehen eingeschlafen. Dann zog er ihn in Richtung der Tür, aus der die beiden Männer zum Vorschein gekommen waren. Sie betraten einen kurzen, mit einfachen Holzplatten ausgekleideten Flur, der von einer einzelnen nackten Glühbirne erhellt wurde. An den Wänden hingen lange Anschlagbretter voller Zettel in allen möglichen Größen und Farben sowie mehreren Sprachen. »Montag abend«, stand auf einem in Englisch, »African Queen. Getränke sind selbst mitzubringen.«
    Ein anderes verkündete auf chinesisch: »Hunde sind in den Wohnbereichen nicht gestattet! Alle aufgefundenen Tiere werden der Küche überantwortet.«
    Die Überschrift des nächsten Blattes war englisch und französisch verfaßt: »Ramme verschwunden!«
    Ein Plakat der Auslandsabteilung des Büros für Öffentliche Sicherheit erinnerte alle Fremden daran, sich strikt an die Bestimmungen ihrer Einreisevisa zu halten. Auf einem langen Banner stand zu lesen, daß von allen nicht anderweitig eingeteilten Arbeitskräften erwartet wurde, beim Aufbau der Tribünen für die bevorstehende Maifeier behilflich zu sein. Es gab sogar eine Bekanntmachung des Büros für Religiöse Angelegenheiten, mit der alle Angestellten nachdrücklich ermahnt wurden, bei der Arbeit

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