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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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fragte Shan.
    Somo schüttelte den Kopf. »Aber danach hat er die ganze Nacht daran gearbeitet und gesagt, er würde sich noch einmal mit Chao treffen. Zuerst dachte ich, er wolle die Armut des Bezirks für das Lotusbuch festhalten. Seine Aufzeichnungen beinhalten jedes Dorf, jeden Hof und jede Hirtenfamilie im Bezirk Norbu.«
    »Es geht um den Bezirk«, sagte Shan. »Nicht um die Gemeinde.«
    Somo nickte. »Den Bezirk des Büros für Religiöse Angelegenheiten. Den Bezirk Norbu, der von Tuan im Auftrag des Büros geleitet wird.«
    Sie zog einen gelben Zettel aus der Tasche und gab ihn Shan.
    »Das hätte ich fast vergessen. Den Zettel hatte Drakte in seinem Stiefel. Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Ich glaube, Chao hat ihm die Liste gegeben, aber nicht während ich dabei war.«
    Es schien sich um eine Art Lohnliste zu handeln, über der handschriftlich ein einzelnes Wort stand: »Dorje«, gefolgt von einem Gedankenstrich, als sei es eine Anrede. Die dorje war ein buddhistisches Symbol, ein kleiner zepterförmiger Gegenstand, der manchmal auch Donnerkeil genannt wurde und für die Macht der Lehren Buddhas stand. Unter dem Namen fanden sich zwei Spalten ebenfalls handschriftlicher Zahlen, die erste mit zwölf, die zweite mit zwanzig Einträgen. »Büro für Religiöse Angelegenheiten, Amdo«, hatte jemand unter die erste Spalte geschrieben, deren Zahlen allesamt abgehakt waren. Neben den obersten beiden Einträgen der ersten Spalte stand »Direktor Tuan« und darunter das chinesische Wort wo. Das hieß »ich« oder »mir«. Damit konnte durchaus der stellvertretende Direktor Chao gemeint sein, erkannte Shan. Unter der zweiten Spalte stand »Öffentliche Sicherheit«.
    »Das ist nicht Draktes Handschrift«, sagte Somo. »Chao muß es geschrieben haben. Ich habe mich ein wenig umgehört. Der Leiter der öffentlichen Sicherheit von Amdo wurde vor zwei Monaten versetzt. Bislang gibt es noch keinen Nachfolger. Da Direktor Tuan hier früher Chef der öffentlichen Sicherheit war, hat er angeboten, die Aufgaben vorläufig zu übernehmen. Er fing an, gewisse Bereiche zusammenzulegen. Einschließlich der Gehaltszahlungen.«
    »Sie meinen, die Kriecher hier bekommen ihr Geld von Direktor Tuan vom Büro für Religiöse Angelegenheiten?«
    Somo nickte.
    Gyalo hatte vor Kriechern gewarnt, die äußerlich nicht als Kriecher auftraten. Es erklärte, warum die Schreihälse in den weißen, militärisch anmutenden Hemden alle wie Angehörige der öffentlichen Sicherheit aussahen.
    »Und da ist noch was: Die rechte Spalte scheint die Löhne der Kriecher des Bezirks zu enthalten. Aber es sind nur fünfzehn Kriecher bekannt.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Ich meine, daß die purbas die Kriecher der Stadt Amdo beobachten. Schon seit Jahren sind dort fünfzehn Mann stationiert. Wir haben es uns von den Leuten, die da putzen, bestätigen lassen. In Amdo sitzen fünfzehn Kriecher, die manchmal mit Tuan unterwegs sind. Demnach gibt es irgendwo noch fünf andere. Sie arbeiten im geheimen.«
    Im geheimen. Die fünf konnten überall sein. Vielleicht trugen sie Mönchsgewänder und lebten in Norbu. Shan erinnerte sich an den Lagerplatz, auf den Dremu oberhalb der Ebene der Blumen gestoßen war, nachdem es dort gebrannt hatte. Steckten die Kriecher dahinter? Er wollte Somo den Zettel zurückgeben, doch sie lehnte mit erhobener Hand ab, als jage das Papier ihr Angst ein.
    Der Lastwagen rumpelte über die holprige Strecke, bis er endlich auf die Nord-Süd-Fernstraße einbog und schneller wurde. Dann ging es weiter bergauf und bergab durch die kahle unwirtliche Landschaft. Shan wußte, daß sie sich auf einer der höchstgelegenen Asphaltrouten der Welt befanden. Er schlief ein, und als er zwischendurch aufwachte, lag draußen Schnee. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit hielt der Lastwagen bei ein paar baufälligen Lehmziegelhäusern, um zu tanken. Hier lag kein Schnee mehr. Der Fahrer füllte eine Thermoskanne mit heißem Wasser, warf eine Handvoll Teeblätter hinein und stellte sie mit zwei Blechbechern und einer Tüte Äpfel hinten auf die Ladefläche.
    Shan schlief sehr unruhig und schreckte jedesmal hoch, wenn ein schnelleres Fahrzeug sie überholte. Es waren zahlreiche schwere Transporter und Busse unterwegs. Zweimal kamen sie an Militärkolonnen vorbei, die am Straßenrand einen Halt eingelegt hatten.
    Einige Stunden nach Sonnenuntergang wurde die Luft drückend und roch beißend. Trübe schwefelfarbene Straßenlaternen tauchten auf, und der

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