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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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kommen, werde ich dafür sorgen, daß ihr nichts geschieht. Sie kann nach Hause zurückkehren.«
    Shan starrte den Offizier an. Wenn sie kommen. Er meinte seine Gebirgsjäger. »Sie hat kein Zuhause«, sagte Shan und ignorierte die Drohung, die mit Lins Worten verbunden war.
    Lin runzelte abermals die Stirn und blickte dem nächsten Gänseschwarm hinterher. »Ich werde ihr Proviant mitgeben und vielleicht auch Schuhe. In den Bergen braucht man gutes Schuhwerk.«
    »Ihr Zuhause ist abgebrannt. Yapchi.«
    »Verdammte Narren«, schimpfte Lin. »Ich habe sie nicht veranlaßt, ihre Häuser anzustecken.«
    »Aber natürlich haben Sie das«, widersprach Shan genauso prompt. Sie starrten einander wütend an. Dann wandte Lin den Kopf, weil Anya ihn rief. Sie hinkte mit dem Garn in der Hand zurück und brachte außerdem etwas mit, das sie ihnen zeigen wollte: einen Stein, dessen gelber Flechtenbewuchs die Form einer Lotusblume angenommen hatte.
    Als Shan zum hinteren Teil des Plateaus ging, hob er den Kopf und erstarrte. Da war etwas zwischen den Felsen über ihnen, nur hundert Meter entfernt. Er stieg auf einen großen Stein, um es besser erkennen zu können. Eine Gestalt saß zwischen den Felsblöcken. Jokar. Der alte Lama-Heiler meditierte. Wie lange war er schon dort? Seit drei Tagen hatte niemand ihn mehr gesehen. Hatte er die ganze Zeit zwischen den Felsen meditiert und über das Mischsims und die ferne Ebene der Blumen hinausgeblickt? Wo steckte sein Beschützer? Nach den Spuren an der Kräuterplatte zu schließen, hatten dort zwei Personen übernachtet.
    Shan ging hinein. Lhandro und sein Vater stritten sich. Nachdem nun Tenzin und Lokesh verhaftet worden waren, wollte Lepka unverzüglich nach Yapchi zurückkehren, und Lhandro versicherte ihm immer wieder, daß sie dort nichts für die beiden tun konnten. Als der alte Mann Shan sah, verstummte er mitten im Satz, ging zur Tür einer der leeren Meditationszellen und starrte in die Dunkelheit. »Es sind die Stengelmänner«, murmelte Lepka den Schatten zu. Seine Stimme klang merkwürdig matt. »Die Stengelmänner hören niemals auf.«
    Dann betrat er die Zelle.
    Nyma warf Shan einen bekümmerten Blick zu. »Manchmal ist er so. Sein Verstand geht auf Reisen.«
    »Was meint er damit?« fragte Shan.
    »Es ist irgendwas aus seiner Kindheit«, sagte Nyma. »Ein Spielzeug, glaube ich.«
    »Es sind Ungeheuer aus seinen Träumen«, erklang hinter Shan die besorgte Stimme von Lhandros Mutter. »Schon seit vielen Jahren hat er alle paar Wochen Alpträume und redet dann wirres Zeug über Stengelmänner. In der letzten Zeit wurde er fast jede Nacht davon heimgesucht.«
    Shan blickte sich in der Kammer um. Winslow und die Amerikanerin sprachen aufgeregt miteinander. Die beiden purbas , die in Larkins Begleitung hergekommen waren, berieten sich mit Somo flüsternd über Lin. Shan betrachtete die zwei Männer. Womöglich hatte er dem Oberst zu voreilig versichert, er sei kein Gefangener.
    So viele Verbrechen, so viele Motive, dachte er und sah erst Lin und dann die purbas an. Alles war voneinander abgegrenzt, und keiner wußte, was der andere machte, genau wie Somo es von den purbas berichtet hatte. Das gleiche galt für Pekings Unternehmungen. Die Kriecher hatten nach dem Lama-Heiler gesucht, die Gebirgsjäger nach Tenzin. Tuan und sein geheimer Trupp von der öffentlichen Sicherheit fahndeten nach dem Mörder des stellvertretenden Direktors Chao. Khodrak hielt nach einem Mann mit einem Fisch Ausschau. Direktor Zhu hatte Larkin für tot erklären lassen, um sie ungestört aufspüren und umbringen zu können. Warum? Weil die purbas sie unter ihre Fittiche genommen hatten, behauptete sie. Doch Shan glaubte nicht mehr daran. Jeder schmiedete eigene Pläne, verfolgte eigene Ziele, und niemand schien zu wissen, was die anderen vorhatten oder aus welchem Beweggrund sie es taten. Shan verstand ja nicht einmal, was Jokar machte. War der Lama-Heiler wirklich nur deshalb den weiten Weg aus Indien hergekommen, weil er in den Bergen umherwandern wollte?
    »Seit wann ist Jokar zurück?« fragte er Nyma.
    »Zurück? Er ist seit dem Tag deiner Abreise verschwunden.«
    »Aber ich habe ihn gesehen. Oben zwischen den Felsen.«
    Nyma eilte nach draußen, und Shan folgte ihr. Jokar war verschwunden. Hatte Shan sich das alles nur eingebildet?
    Sie suchten die Geröllhalde ab und sahen sich überall um. Der alte Mann war vielleicht gestürzt. Genaugenommen schien man die Stelle, an der Shan ihn gesehen

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