Das tibetische Orakel
hatte, kaum erreichen zu können.
Doch als sie zurückkehrten, waren alle ganz aufgeregt. Die purbas hatten sich beruhigt. Lhandro und sein Vater schauten zugleich ehrfürchtig und verwirrt drein. Lhandros Mutter lag auf einer Bettstatt, und der LamaHeiler saß vor ihr.
»Er war plötzlich einfach da«, sagte Lhandro. »Er stand neben meinem Vater in der Meditationszelle, als habe er sich dorthin gezaubert. Niemand hat ihn hereinkommen gesehen. Er sagte, meine Mutter solle sich hinlegen. Dann hat er gefragt, wie es ihren steifen Knien geht. Sie hatte Probleme mit den Knien, bis wir das Lamtso-Salz zurückgebracht haben.«
Jokar ging zu Lhandros Vater, der ganz in der Nähe bei den Butterlampen saß. Dort im Licht bemerkte Shan eine Verfärbung an Jokars Hals, einen großen dunklen Fleck, der ihm bisher nicht aufgefallen war. Als habe jemand den Lama geschlagen.
Jokar fühlte Lepkas Puls, und die beiden Männer fingen an, miteinander zu reden, erst leise, dann etwas entspannter und lauter. Sie sprachen über Rapjung und wie die Kräutersammler einst jeden Herbst nach Yapchi kamen - daß ein Lama und sein Schüler manchmal einen ganzen Monat blieben und Arzneien anmischten.
»Ich kann mich noch an ein wunderschönes Haus dort erinnern«, sagte Jokar. »Es war wie ein alter hölzerner Tempel.«
Seine Stimme floß wie Sand. Er hielt immer noch Lepkas Handgelenk zwischen den Fingern.
Lepka lächelte zurück. »Dieses Haus hat vielen Leuten heitere Gelassenheit beschert.«
Als der Lama die Untersuchung beendet hatte, sah er erst Lepka und dann dessen Frau an. »Nimm nicht immer deinen Stab«, sagte Jokar ruhig. »Vertrau auf deine Frau. Sie ist ebenfalls eine starke Stütze.«
Nyma saß in der Ecke und beobachtete Jokar mit einer Mischung aus Schuldgefühl und Ehrfurcht. Sie trug noch immer die rongpa-Kleidung. Seit das Dorf abgebrannt war, hatte Shan kein einziges Mal eine Gebetskette in ihrer Hand gesehen.
Die purbas blieben im Schatten der gegenüberliegenden Ecke und wirkten verunsichert. »Haben sie vor ihm Angst?« fragte Shan, als Somo zu ihm kam.
»Nein. Aber ich habe Angst. Sie scheinen sich nun sicher zu sein, daß er derjenige ist, und sie sagen, es sollten noch mehr purbas herkommen, um ihn zu beschützen.«
»Derjenige?«
»Der Mönch, der gekommen ist, um den Stuhl des Siddhi einzunehmen.«
Shan starrte sie erschrocken an. Der gebrechliche alte Lama-Heiler würde niemals zum gewaltsamen Widerstand gegen die Chinesen aufrufen. Doch eventuell kannte er den Stuhl des Siddhi und würde hingehen, um zu den Menschen über den Mitfühlenden Buddha zu sprechen. Für die purbas bedeutete es womöglich keinen Unterschied, was Jokar sagte, solange er den Platz einnahm. Eine sich erfüllende Prophezeiung würde großen Einfluß auf die Bergvölker ausüben, und die purbas könnten sich die Legende für ihre eigenen Ziele zunutze machen. Es hieß, der Lama, der auf dem Stuhl sitze, sei der Anführer der Revolution. Auf einmal trat einer der jungen Tibeter aus Larkins Team vor und kniete sich neben Jokar.
»Rinpoche«, erklärte der Mann. »Wirst du kommen? Wirst du dies für uns alle tun?«
Jokar drehte sich um und neigte fragend den Kopf.
»Wirst du den Stuhl des Siddhi einnehmen?«
Als Jokar ihn nur wortlos anschaute, wiederholte der purba die Frage mit vor Aufregung zitternder Stimme.
Der Lama lächelte und nickte. Die Augen des jungen Mannes erstrahlten, und er warf Somo einen triumphierenden Blick zu. Dann sprang er auf, nahm hastig seinen kleinen Rucksack und lief zur Tür hinaus.
Jokar erhob sich, ging direkt auf Winslow zu, der ein Stück neben Shan saß, und nahm vor ihm Platz. Der Amerikaner warf Shan einen verlegenen Blick zu, als wisse er nicht, was er tun solle. Die Hand des Lama hob sich und verharrte über Winslows Scheitel, ohne ihn jedoch zu berühren. Dann glitt sie im Abstand von zwei oder drei Zentimetern langsam an Kopf, Hals und Körper des Amerikaners hinunter. Der Lama seufzte und nahm Winslows Handgelenk. »Die Berge machen Schlimmes mit dir durch«, sagte Jokar sanft.
Winslow neigte den Kopf. Der Sinn dieser Worte schien ihm völlig schleierhaft zu sein. »Es geht mir schon besser«, entgegnete er mit unbeholfenem Grinsen, als habe er beschlossen, daß der Lama sich auf seine Höhenkrankheit bezog.
»Du bist hierfür von weither gekommen«, sagte der alte Mann. Seine tiefen, feuchten Augen musterten Winslow ein weiteres Mal. »Da gibt es dieses eine schwarze Ding. Du mußt
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