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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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es loswerden.«
    Er hielt erneut inne, sah dem Amerikaner in die Augen und schien noch etwas sagen wollen, doch es drang lediglich ein Seufzen über seine Lippen. Dann neigte er fragend den Kopf, als gebe irgend etwas an dem Amerikaner ihm plötzlich Rätsel auf. »Du bist von weither gekommen«, wiederholte er und erhob sich langsam.
    Winslow starrte zu Boden. Er wirkte irgendwie erschüttert. Dann hob er den Kopf und sah Melissa Larkin an, die seinen ernsten Blick erwiderte. Er lächelte verschämt. »Es fühlt sich auch weit an«, witzelte er, stand ebenfalls auf und ging hinaus.
    Wenig später traf Shan ihn bei dem alten Wacholderbaum an. »Sie haben Melissa Larkin gefunden«, sagte er zögernd. »Nun können Sie umkehren.«
    »Ich habe einen bestimmten Weg eingeschlagen«, erwiderte der Amerikaner leise und klang dabei seltsam befremdet, als würden ihn die eigenen Handlungen oder Gefühle überraschen. Gemeinsam starrten sie den Baum an. Auf einem nahen Ast ließ sich ein kleiner brauner Vogel nieder und beobachtete sie. »Es ist mir bestimmt, diesen Weg zu gehen, doch kann ich ihn manchmal nur schwer erkennen.«
    Es gab noch ein Geheimnis, für dessen Enträtselung Shan bislang keine Zeit gehabt hatte: Wer war Winslow? Zu wem wurde er?
    »Sie sind hergekommen, um Miss Larkins Leiche zu suchen«, rief Shan ihm ins Gedächtnis. »Nun wissen Sie, daß sie noch lebt. Sie haben ihr das Leben gerettet. Gehen Sie. Alles weitere.«
    Er suchte nach den richtigen Worten. »Ab jetzt wird es sehr gefährlich.«
    »Zhu ist noch immer dort draußen. Was ist, wenn ich weggehe, und ihr stößt etwas zu?«
    »Die purbas beschützen sie.«
    Winslow richtete sich seufzend auf und beugte sich näher an den Vogel heran. »Im Herzen habe ich aufgehört, für die Regierung zu arbeiten«, gestand er dem kleinen Geschöpf, das aufmerksam zu lauschen schien. Shan entdeckte in der Stimme des Amerikaners eine neue Klarheit und Gelassenheit. »Als ich meinen Paß aus der Hand gab, war das in gewisser Weise, als würde jemand ein großes Gewicht von mir nehmen. Es stellte einen Teil des Weges dar, es sollte so sein.«
    Er wandte sich an Shan. »Und nun zu dem, was Jokar gesagt hat. Er sagte, ich sei von weither gekommen. Ich glaube nicht, daß damit die vielen Kilometer bis nach Amerika gemeint waren. Aber was sollte es bedeuten, als er sagte, die Berge würden Schlimmes mit mir durchmachen?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Shan empfand einen unerklärlichen Kummer. »Irgendwas zwischen den Berggöttern und Ihnen.«
    »Es ist nur so, daß ich in Tibet noch nicht fertig bin«, sagte Winslow wieder zu dem Vogel, der ihm genau in die Augen starrte.
    Dann drehte der Amerikaner sich abrupt um und sah Shan an. »Ich habe letzte Nacht etwas geträumt. Ich schwebte über den Bergen, und alles war so friedlich wie noch nie zuvor. Dabei hielt ich Jokars Hand, und wir schwebten gemeinsam umher, während er lachte und mir seine Lieblingsorte zeigte. Zusammen mit einigen Gänsen überflogen wir einen tiefen blauen See. Am Ende sah ich ihn an und sagte: >Rinpoche, jeder Lama braucht einen Cowboy< und er hat bloß ernst genickt.«
    Der Amerikaner schaute zurück zu dem Vogel, der noch immer großes Interesse an seinen Worten zu haben schien.
    »Es war nur ein Traum«, beschwichtigte Shan ihn. Falls Lokesh Zeuge dieser Unterredung gewesen wäre, hätte er Winslow gefragt, ob er sicher sei, wirklich geschlafen zu haben.
    »Ich glaube, es bedeutet, daß ich Melissa und den Tibetern helfen soll. Und auch Lokesh und Tenzin.«
    »Ich dachte, man erwartet Sie in Peking zurück.«
    »Und was soll ich den Bürokraten dort mitteilen? Daß Larkin nicht tot ist, aber es mit etwas Glück bald sein wird? Wahrscheinlich gibt es sogar ein entsprechendes Formular. Meldung eines zukünftigen Mordes.«
    Winslow blickte auf seine Hände. »Ich weiß, daß Sie Lokesh nicht im Stich lassen werden.«
    »Nein«, sagte Shan leise. »Im Stich lassen werde ich ihn nicht.«
    Plötzlich rief vom Eingang aus Nyma nach ihnen. Sie klang verzweifelt. Shan und Winslow liefen los.
    »Er hat einfach aufgehört«, schrie sie. Sie war kreidebleich. »Er hat sich an die Wand gelehnt, einmal geseufzt und ist dann einfach hinuntergerutscht. Jokar. Jokar ist tot.«
    Der Lama saß zusammengesackt vor der Wand, ein Bein ausgestreckt, das andere unter dem Leib eingeklemmt. Eine Hand hielt eine abgewetzte bronzene dorje umklammert. Sein Gesicht ließ keinerlei Lebenszeichen erkennen. Lhandro und seine

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