Das tibetische Orakel
Sie sah Melissa Larkin an und wandte sich dann mit einem Nicken an Winslow. »Sie haben nie wirklich an ihren Tod geglaubt«, stellte sie mit feierlichem Unterton fest. »Ich wußte das, aber von solchen Dingen zu sprechen hätte Unheil heraufbeschwören können.«
Larkin lächelte verlegen. Zhus Anschlag hatte sie zutiefst erschüttert. Shan vermutete, daß sie ehrlich geglaubt hatte, sie würde nach dem Abschluß ihrer Arbeit zur Ölfirma zurückkehren können. Nun wußte sie, daß der Direktor für Sonderprojekte sie umbringen wollte.
Shan stellte den anderen Lhandro und seine Eltern vor, die sich als einzige in den Räumen aufhielten. Den LamaHeiler hatten sie noch nicht wieder gesehen. Lhandro und seine Mutter servierten Tee, während Shan berichtete, was mit Lokesh und Tenzin geschehen war und wer sich hinter dem vermeintlich stummen Tibeter in Wahrheit verbarg. Danach ging Shan zu Anya und Oberst Lin. Sie saßen mit einer Schale kalter tsampa-Klöße auf einer Decke unter dem alten Wacholderbaum, unterhielten sich und deuteten auf die Wolken. Es sah wie ein Picknick aus. Shan blieb in einigen Metern Abstand stehen. Die beiden hatten ihn nicht bemerkt. Oberst Lin verschränkte die Hände, und das Mädchen fing an, seine Finger in einem komplizierten Muster mit Garn zu umwickeln. Lin stieß ein seltsames Geräusch aus, als würde er Schmerzen leiden. Shan trat näher. Nein, der Oberst lachte.
Das Mädchen sah Lin erwartungsvoll ins Gesicht, zog dann an einem Ende des Fadens, und das gesamte Gebilde löste sich in Wohlgefallen auf. Der Oberst lachte erneut.
Shan kam noch näher. Erschrocken blickten die beiden auf. Lin runzelte die Stirn und schien einen Fluch zu unterdrücken. Anya deutete neben sich auf die Decke, und Shan setzte sich.
Keiner sprach ein Wort. Anya bot Shan von dem kalten tsampa an und wies dann auf einen großen Raubvogel, einen Lämmergeier, der über einem der langen tiefergelegenen Kämme aufstieg. Shan blickte nach Süden. Irgendwo in den Dunstschleiern am Horizont stand Norbu. Lin zeigte auf einen Gänseschwarm, der in Richtung des Lamtso flog. Shan mußte daran denken, daß der Oberst erst kürzlich noch auf diese Vögel geschossen hatte.
Plötzlich riß eine Windbö das Garn von der Decke und trug es ein paar Meter zu den Felsen. Anya sprang auf, um es zu holen.
»Man hat meine Freunde verhaftet«, sagte Shan leise.
»Den Alten und den Großen, der sich Tenzin nennt«, sagte Lin. Es klang nicht wie eine Frage, sondern als hätte er gewußt, was passieren würde.
»Tenzin war der Abt von Sangchi, der so plötzlich verschwunden ist.«
»Geflohen«, rief Lin. »Das ist es, was Diebe tun. Mir ist egal, wie die anderen ihn bezeichnen. Er ist ein Dieb. Mein Dieb.«
Sein finsterer Blick richtete sich auf Shan. »Man wird sich keinesfalls auf einen Austausch der Geiseln einlassen.«
»Nein«, sagte Shan langsam. Er sah den Offizier an und begriff erst allmählich, was Lin gemeint hatte. »Sie sind keine Geisel, Oberst. Und auch kein Gefangener.«
Als Lin den Kopf wandte, verursachte ihm diese Bewegung offensichtlich Schmerzen. »Das behaupten Sie nur, weil Sie wissen, daß ich ohnehin nicht von hier weg kann«, sagte er mit verzerrtem Gesicht. »Schon nach den ersten paar Schritten wird mir schwindlig. Das Mädchen hilft mir.«
»Sie hat Ihnen das Leben gerettet. Wäre sie nicht gewesen, hätte niemand Sie unter diesen Felsen hervorgeholt, also könnten Sie wenigstens ihren Namen benutzen.«
»Sie heißt Anya«, räumte Lin gereizt ein.
»Meine Freunde wurden gefangengenommen, weil sie Medizin für Sie holen wollten.«
Lin gab einen Laut von sich, der wie ein Schnauben klang, und verzog die Lippen zu einem kalten Lächeln, als würde ihm diese Neuigkeit gefallen. Anya jagte auf dem Hang noch immer dem Faden hinterher, ihr schiefer Gang ließ sie oftmals straucheln.
»Falls Sie die beiden gebeten hätten, die Medizin zu holen und dafür in das Tal zurückzukehren, in dem Ihre Soldaten warteten, wären Lokesh und Tenzin trotzdem gegangen«, sagte Shan.
Lin musterte ihn mit düsterer Miene, sagte aber nichts, sondern schaute zu Anya, die mittlerweile wie ein spielendes Kind wirkte. Schweigend sahen sie ihr eine Weile zu. Sie schien alles um sich herum vergessen zu haben und kniete nieder, um ein paar Blumen zu betrachten.
»Das Mädchen zeigt mir Dinge«, sagte Lin. »Anya«, fügte er zögernd hinzu und wandte sich langsam wieder zu dem Bergpanorama vor ihnen um. »Wenn sie
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