Das tibetische Orakel
Eltern sagten in schneller, nahezu hektischer Folge Mantras auf. Die purbas knieten mit hilflos verzerrten Gesichtern in einem Halbkreis vor den Lama.
Shan drängte sich zwischen ihnen hindurch. Jokar atmete nicht. »So alt«, sagte Nyma voller Qual. »Aber es ist niemand hier, um den Bardo-Ritus anzustimmen.«
Mit zitternden Fingern nahm Shan die Hand des alten Mannes. Lokesh hätte gewußt, was zu tun war. Shan legte Jokar die Finger auf das Handgelenk, wie er es bei seinem Freund schon Dutzende Male beobachtet hatte. Zuerst konnte er keinen Puls spüren, doch dann ertastete er etwas, das wie das Flattern ferner Schwingen wirkte. Ein Herzschlag. Dann, nach einer halben Ewigkeit, ein weiterer.
»Ein solcher Mann kann manchmal abberufen werden, um mit den Göttern zu sprechen«, sagte Anya dicht hinter Shan. Die anderen starrten sie ernst an, aber niemand widersprach. Wenn es eine Gottheit gab, die zu Anya kam, um sich durch sie mitzuteilen, konnte ein anderer Gott doch mit Leichtigkeit Jokar herbeizitieren, um sich irgendwo mit ihm auszutauschen. »Ein Teil von ihm könnte zurück in das hayal gerufen worden sein, aus dem er gekommen ist.«
Jokar stamme aus einem der verborgenen Länder, meinte sie. Lokesh hätte vermutlich gesagt, diese Wahrheit sei so gut wie jede andere. Mit Nymas Hilfe zog Shan vorsichtig das Bein unter dem Körper des Lama hervor. Die Haut des Mannes war kühl, aber nicht kalt.
»Er ist fort«, stöhnte Lhandro. »So etwas kommt vor. Die Organe hören nacheinander auf zu arbeiten.«
»Er hat das Wissen in sich aufgenommen«, sagte Lepka leise. Als ihm Shans fragender Blick auffiel, fuhr er fort. »Das war ein Lehrsatz aus Rapjung, den ich in meiner Jugend häufig gehört habe. Die größte Gabe des menschlichen Daseins ist das Wissen, und das größte Wissen ist das Wissen um den Tod.«
Er sah bei diesen Worten Jokar an und wandte sich dann wieder Shan zu, als wolle er sich noch genauer erklären. »Die Mönche würden sagen, daß es ein großes Geschenk ist, die eigene Vergänglichkeit zu kennen.«
Alle verstummten. Sogar die Mantras hörten auf. Lepka sah sich verwundert um, als hätte er nicht damit gerechnet, daß die anderen durch seine Worte überrascht sein würden.
»Links und rechts von ihm sollte jemand sitzen, damit er nicht umkippen kann«, erklärte Lhandros Mutter und übernahm einen der beiden Posten. Nyma ließ sich auf der anderen Seite nieder. Shan wich zurück und registrierte Winslows besorgte Miene.
»Ich habe noch ein paar Tabletten übrig«, bot der Amerikaner hilflos an und trat vor. »Diese Stelle mit den Kräutern. Ich könnte hingehen, falls jemand mir sagt, was ich von dort mitbringen soll.«
Shan musterte erst Jokar und dann Winslow. Die merkwürdige Verbindung, die zwischen den beiden entstanden war, gab ihm Rätsel auf. »Er hat das schwarze Ding erwähnt«, sagte Shan. »Er hat gesagt, Sie sollen es loswerden. Das zumindest können Sie tun.«
»Ich weiß nicht, was er damit meint.«
Der Amerikaner blickte fortwährend zwischen Shan und Jokar hin und her.
»Das schwarze Ding, das Sie mit sich herumtragen«, sagte Shan.
Winslow schaute kurz in den Schatten, seufzte, nahm seinen Rucksack und ging nach draußen. Shan folgte ihm mit einigen Schritten Abstand zum Rand des Plateaus.
Er erreichte Winslow, als der Amerikaner sich kurz zu Lin umwandte, der inzwischen auf einem Felsen in der Nähe des kleinen Wacholderbaumes saß. Sie gingen an den Ruinen der alten Hütte vorbei, so daß Lin sie nicht mehr sehen konnte. Winslow öffnete den Rucksack. »Ich dachte, Melissa könnte das Ding vielleicht gebrauchen, solange Zhu noch in den Bergen unterwegs ist.«
Shan deutete wortlos auf einen Punkt weit unter ihnen, wo eine schmale Schlucht einen dunklen Schatten warf. Winslow holte Lins Pistole hervor und schleuderte sie in den Abgrund. Sie flog in hohem Bogen davon, stürzte lange in die Tiefe und verschwand im Schatten.
In der Nähe zog ein großer Vogel seine Kreise, ein Lämmergeier, der hinabstieß, um einen Blick auf die Pistole zu werfen. Er drehte ab und schickte ihr einen langen Schrei hinterher.
Schweigend kehrten sie in den Mischraum für Arzneien zurück und hielten mit den anderen bei Jokar Wache. Die rongpas rezitierten das mani-Mantra. Larkin und Winslow saßen zu Füßen des Lama. Somo hielt eine von Jokars Händen und streichelte sie sanft. Anya stimmte flüsternd eines ihrer Lieder an, und einen Moment später summte Melissa Larkin auf
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