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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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klappte mit fragendem Blick die Karte auf und winkte Shan zu sich. Wenquan war die nächstgelegene Stadt der Provinz Qinghai, und Amdo war von hier aus der erste Ort im Süden. Wer nach Lhasa wollte, mußte dort hindurch.
    »Man hat mit den beiden nicht das gemacht, was jeder erwartet hätte«, stieß Somo hastig flüsternd hervor. »Sie wurden weder in ein Gefängnis noch nach Lhasa geschafft. Auch nicht zum Flughafen, um von dort aus in irgendeine andere Haftanstalt gebracht zu werden.«
    An der Fernstraße zwischen den beiden Städten gab es nichts - lediglich eine kurze, dünne graue Linie, die in Richtung Westen abzweigte. »Es gibt nur einen möglichen Ort«, sagte Somo und deutete auf das Ende der Linie. »Norbu gompa.«
    Es ergab keinen Sinn. Aber aus Sicht der Armee und des Büros für Religiöse Angelegenheiten ergab es noch viel weniger Sinn, die Gefangenen in Yapchi zu belassen, und die Soldaten wußten zweifellos von Norbu. Shan schnürte sich die Kehle zusammen; er mußte an die Schilder mit Politparolen denken, die er im Kloster gesehen hatte, an das einschüchternde Auftreten der Männer in den weißen Hemden und den Blick des Vorsitzenden Khodrak.
    »Da ist noch etwas, das die anderen sich nicht erklären konnten. Zwischen den Schreihälsen und den Soldaten hat es in Yapchi einen großen Streit gegeben. Am Abend nachdem man Tenzin und Lokesh gefaßt hatte, haben Tuan und einer von Lins Offizieren sich laut angebrüllt, und am nächsten Morgen war Tuan mit all seinen Männern nicht mehr da.«
    Von der anderen Seite des Kamms ertönte ein Pfiff. Kurz darauf kam ein Hubschrauber in Sicht, dieselbe elegante Maschine, die Shan und die anderen am Vortag dort abgesetzt hatte. Sie landete sofort, und zwei Männer luden mehrere kleine Kartons und Nylontaschen aus. Es dauerte nicht einmal fünf Minuten, dann waren sie fertig, steckten eine lange Stange mit orangefarbenem Wimpel in den Boden und stiegen wieder ein. Wenige Augenblicke später war der Helikopter verschwunden.
    Winslow sprang auf, gefolgt von Somo. »Ich brauche diese Vorräte!« rief Larkin ihm hinterher, seufzte und lehnte sich gegen den Felsen, um weiter in ihren Notizen zu lesen.
    Nach zehn Minuten kehrten Winslow und Somo zurück, und die beiden purba -Wachposten stahlen sich ebenfalls zu den anderen. Die Kartons standen noch immer an der ursprünglichen Stelle, waren aber anders angeordnet als zuvor. Mitten zwischen ihnen befanden sich nun zwei Gestalten in den Overalls, Jacken und grünen Helmen, die Shan und Somo aus Golmud mitgebracht hatten. An einem der Helme hatte Winslow hinten ein zusammengedrehtes braunes Grasbüschel befestigt, das wie ein Zopf aussah. Es handelte sich um mit Decken ausgestopfte Attrappen; eine wurde von der Stange aufrecht gehalten, die andere lehnte an den Kartons. Die grünen Oberkörper waren leicht nach vorn gebeugt, als würden die Leute den Lieferschein lesen. Der Pfad, den die purbas beobachteten, lag in ihrem Rücken.
    »Eine halbe Stunde«, verkündete Larkin ungeduldig, als die purbas eintrafen. »Eine halbe Stunde und dann gehe ich los und nehme meine Ausrüstung.«
    Doch es dauerte keine fünf Minuten, da schnippte einer der purbas mit den Fingern und wies nach Norden. Shan riskierte einen Blick um die Felsen herum. Drei Personen waren oben auf dem Pfad aufgetaucht und rannten geduckt in Deckung.
    »Zhu, dieser Idiot, will vermutlich nur einen Teil meiner Sachen klauen«, ärgerte Larkin sich. »Wahrscheinlich verkauft dieser kleine Mistkerl das Zeug auf dem.«
    Sie wurde von dem lauten Knall eines Gewehrs unterbrochen. Es folgten zwei weitere Schüsse. Die purbas zogen Larkin auf die andere Seite des Grats.
    Shan spähte ein letztes Mal zwischen den Felsen hindurch. Die Attrappen lagen ausgestreckt auf den Kartons; einer der Helme war zerborsten. Von der anderen Seite näherte sich Direktor Zhu mit einem Jagdgewehr über der Schulter. Er schritt munter aus, als wolle er eine Trophäe einsammeln.
    Sie wagten es nicht, den Weg zur Schlucht einzuschlagen, denn dazu hätten sie einen offenen Hang überqueren müssen und wären ein leichtes Ziel gewesen. Shan führte sie nach unten auf einen Pfad, der um den Berg herumführte. Nach einer Stunde trafen sie am Mischsims ein.
    Nyma, die auf einem Felsen in der Nähe des versteckten Eingangs saß, stieß einen überraschten Ruf aus und lief ihnen entgegen. Als sie die Neuankömmlinge erreichte, hielt sie jedoch inne und musterte unschlüssig Shans Begleiter.

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